Zwischen Liebe und Überforderung

Sie lassen sich wöchentlich für einen oder zwei Tage, für Ferien oder bei Notfällen einspannen: Die meisten Grosseltern betreuen ihre Enkelkinder mit Begeisterung. Irgendwann kann es aber zu viel werden. Die eigene Überforderung zuzugeben, fällt schwer.

Text: Usch Vollenwyder, Illustrationen: François Chalet

© François Chalet

Die Freude bei Susanne M. war riesengross: Nach drei Fehlgeburten hatte ihre Tochter einen gesunden Sohn bekommen. Susanne M. war verzaubert von ihrem ersten Enkelkind. Sie hatte nicht gewusst, dass man ein kleines Wesen so unbändig lieben konnte. Spontan bot die freischaffende Therapeutin Tochter und Schwiegersohn an, einen Tag in der Woche das kleine Wunderwesen zu betreuen. Das junge Paar nahm die Hilfe gerne an – die Tochter würde an diesem Tag als Buchhändlerin weiterarbeiten können. Das Arrangement war für alle Seiten perfekt.

Inzwischen sind acht Jahre vergangen. Liam geht bereits in die Schule, seine Schwester Zoé ist fünfjährig. Nach wie vor fährt Susanne M. mit Bus und Tram zur jungen Familie, schickt Liam zum Unterricht, geht mit Zoé und dem Hund spazieren, kocht das Mittagessen, erzählt Geschichten, hilft dem Älteren bei den Aufgaben, spielt mit der Jüngeren und bereitet für die ganze Familie das Nachtessen vor. Vor fünf Jahren hatte Susanne M. eine schwere Rückenoperation. Chronische Schmerzen sind geblieben. Vor Kurzem feierte sie ihren siebzigsten Geburtstag. «Ich bin am Limit», sagt sie.

© François Chalet

Rund ein Viertel aller Grosseltern kümmert sich regelmässig um ihre Enkelkinder, die grosse Mehrheit von ihnen mindestens einen Tag pro Woche. Die Gründe für dieses Engagement sind vielfältig. Alleinerziehende Töchter sind oft besonders auf grosselterliche Unterstützung angewiesen; diese wird ihnen meist ungefragt und selbstverständlich gewährt. Auch springen Grosseltern häufig ein, wo staatliche Betreuungsangebote fehlen. Eltern haben grosses Vertrauen in die Betreuung durch Grosseltern – weit mehr, als Kindertagesstätten und anderen Betreuungsformen zugestanden wird.

Doch äussere Umstände sind nicht die häufigsten Gründe, warum sich Grosseltern in der Enkelbetreuung engagieren. Grosseltern ist es ein Bedürfnis, eine Beziehung zu ihren Enkeln zu haben. Das geht nicht ohne regelmässigen Kontakt. So hüten sie einen oder zwei Tage in der Woche, in den Ferien oder einmal im Monat an einem Wochenende. Sie ermöglichen den jungen Eltern einen freien Abend oder sind bei Notfällen zur Stelle. Die meisten tun es unentgeltlich und freuen sich über einen Blumenstrauss, andere sind froh um eine finanzielle Entschädigung. Gemeinsam ist Ihnen die Freude an der jüngsten Generation.

Mit Enkelkindern geht die Familiengeschichte weiter. Mit ihnen können Grosseltern nachholen, was vielleicht mit den Kindern verpasst wurde, und eintauchen in die längst vergangene eigene Kindheit. Enkel bedeuten Glück und bedingungslose Liebe ohne Erziehungsverantwortung. «Doch Enkelbetreuung ist körperlich und geistig eine anspruchsvolle Aufgabe», sagt François Höpflinger, Soziologe und Alters- und Generationenforscher.

Hüten, obwohl man überfordert ist

© François Chalet

In der Schweiz sind Grosseltern im Durchschnitt Mitte fünfzig, wenn der erste Enkel kommt. Viele fühlen sich in diesem Alter noch jung und fit genug, um Grosskinder, alte Eltern und eigene Interessen unter einen Hut zu bringen. Doch irgendwann kommt ein zweites, dann ein drittes Enkelkind dazu. Die eigenen Kräfte nehmen ab. Nach einem Enkeltag seien sie todmüde, berichten viele betreuende Grosseltern. «Krankheit und altersbedingte Einschränkungen sind die häufigsten Gründe, warum Grosseltern mit der Enkelbetreuung an ihre Grenzen kommen», sagt François Höpflinger, selbst vierfacher Grossvater. Susanne M. könnte sich aus der Enkelbetreuung zurückziehen: «Ich kann gut Nein sagen.» Sie weiss von anderen Grosseltern, die das nicht können. Sie hüten, obwohl sie andere Pläne haben oder sich überfordert fühlen. Sie hüten auch, weil sie Angst haben, sie würden sonst ihre Enkel kaum noch sehen. Und schliesslich hat sie selber auch schon die Erfahrung gemacht, dass aktive Grosseltern andere kritisch beäugen und vergleichen: Dann falle es besonders schwer, zuzugeben, dass man mit der Betreuung der Kleinen überfordert sei.

Hilfe annehmen ist wichtig

Susanne M. kann und will sich nicht eingestehen, dass die ständigen Rückenschmerzen sie erschöpfen. Und so bestreitet sie nach wie vor ihren wöchentlichen Enkeltag – wenn auch mit Mühe. Der noch wichtigere Grund, warum sie daran festhält: Das Enkelhüten geht ihr über alles. «Die Freude über das Zusammensein mit Liam und Zoé lasse ich mir von meinem schmerzenden Rücken nicht nehmen.» Die Statistik bestätigt die enge Bindung zwischen Grosseltern und Enkelkindern: Sechzig Prozent von ihnen sehen sich mindestens einmal in der Woche.

© François Chalet

Schliesslich handelte Alex F., der Lebenspartner von Susanne M. Hinter ihrem Rücken redete er mit Tochter und Schwiegersohn. Diese waren überrascht, reagierten aber sofort: Seit Weihnachten wird im jungen Haushalt vorgekocht, der Hund von einer Nachbarin übernommen, und Susanne M. geht bereits vor dem Nachtessen wieder nach Hause.

Sie ist dankbar für die deutliche Entlastung. Und überlegt sich schon nächste Schritte: «Bevor ich wieder an meine Grenzen komme, werde ich Freundinnen bitten, mit mir meinen Enkeltag zu teilen.» Sie ist überzeugt: «Überforderte Grosseltern brauchen Hilfe.»

«Wir kommen an unsere Grenzen …»

Unsere einzige Tochter ist alleinerziehend. Sie wohnt mit ihren beiden Kindern – Zwillinge – im gleichen Haus wie wir. Da sie weiterhin ihrem Beruf nachgehen musste, waren wir von Anfang an in die Betreuung der Enkel eingebunden. Wir taten es mit Begeisterung! Das hat sich geändert, seit die beiden in der Pubertät sind. Obs ums Katzenklo putzen, die Spülmaschine ausräumen oder den Spaziergang mit dem Hund geht, ob es sich um die Schulaufgaben oder die Zeit vor dem Computer handelt: Es gibt endlose Dispute und Verhandlungen. Meist haben die Jugendlichen den längeren Atem, und wir geben nach. Unsere alleinerziehende Tochter ist mit ihren Nerven oft selber am Ende, sodass wir uns zurzeit keinesfalls von unserer Abmachung zurückziehen möchten. Aber wir kommen an unsere Grenzen …

Samuel M.

«Ein Jahr hielten wir durch.»

© François Chalet

Als unsere Tochter kurz hintereinander drei Kinder bekam, waren wir junge, fitte Grosseltern. Gern hätten wir häufiger gehütet, doch die junge Familie wohnte in Zürich und wir im Emmental. So verbrachten die Kinder jeweils einen Teil ihrer Ferien bei uns. Zehn Jahre später heiratete unser Sohn, der im Nachbardorf wohnt, eine Studentin. Das erste Kind war unterwegs, wir sahen die Probleme mit zu wenig Betreuungsangeboten auf dem Land und boten an, das Kind einen Tag in der Woche zu betreuen. Beim zweiten, zwei Jahre später, machten wir einfach weiter. Schliesslich kam ein dritter Enkel dazu … So hatten wir uns den wöchentlichen Grosselterntag nicht vorgestellt. Der Älteste war ein wilder Junge, das Mädchen eine kleine Prinzessin, das Baby intensiv. Wir waren inzwischen Mitte siebzig und sanken nach einem solchen Tag meist schon um zwanzig Uhr todmüde ins Bett. Ein Jahr hielten wir durch. Dann redeten wir mit Sohn und Schwiegertochter. Sie erschraken, waren aber sofort bereit, für die zwei Älteren einen Platz in der Tagesschule zu reservieren. Jetzt haben wir noch den Kleinen – und es geht uns unendlich viel besser.

Hermann und Lena F.

«Nein sagen ist schwer.»

Meine Kinder akzeptieren ohne Wenn und Aber, wenn ich zum Enkelhüten einmal Nein sage, das heisst, wenn ich Nein sagen würde. Doch das schaffe ich irgendwie nicht. Ich weiss nicht einmal, warum nicht: Freue ich mich so sehr über die Enkelkinder, dass ich sie nicht missen möchte? Will ich meine Jungen nicht enttäuschen? Will ich ihren unausgesprochenen Erwartungen gerecht werden? Ich kann die Arbeit mit den Enkeln gut bewältigen, ich bin keine überforderte Grossmutter. Aber mir fehlen danach Zeit und Energie für meine eigenen Interessen. Und das ärgert mich manchmal.

Christine D.

Freude am Enkelkind

Seit meinem mehrfach erfolglos operierten Knie gehöre ich zu den Schmerzpatientinnen, die als austherapiert gelten. Manchmal machen mich die ständigen Schmerzen lebensmüde. Aber dann ist da mein dreijähriger Enkel Lars. Einen Nachmittag in der Woche ist er bei mir. Gottseidank. Er ist mein Sonnenschein. Ich weiss nicht, was ohne ihn wäre … Natürlich gehöre ich wegen der Schmerzen zu den hoffnungslos überforderten Grossmüttern. Ich kann mit dem Kleinen nicht hinaus ins Freie – ich erzähle ihm Geschichten, schaue mit ihm Bilderbüchlein an, mache mit ihm Spiele und Puzzles. Im Notfall unterstützt mich mein Lebenspartner. Zu diesem Nachmittag «Nein» zu sagen, wäre kein Problem. Aber mich der Freuden mit meinem Enkel zu berauben – das wäre ein Problem!

Melanie F.


«Verpflichtungen sind regelmässig zu überprüfen»

Der Alters- und Generationenforscher François Höpflinger ist selber vierfacher Grossvater. Um Überforderung bei der Enkelbetreuung vorzubeugen, rät der Soziologe zur regelmässigen Überprüfung des Engagements.

Prof. Dr. François Höpflinger
© Bernard van Dierendonck

Grosseltern leisten Betreuungsarbeit in Milliardenhöhe. Weshalb tun sie das?
Den meisten Grosseltern ist eine gute Beziehung zu ihren Enkelkindern wichtig. Deshalb sind sie in der Regel gern bereit, Betreuungs- oder andere Unterstützungsaufgaben zu übernehmen. Die Verpflichtung dazu besteht nicht. Eine Umfrage zeigt jedoch, dass rund siebzig Prozent der Männer und Frauen der Grosselterngeneration sich gegenüber ihren Nachkommen verpflichtet fühlen: Man ist für die Familie da und will die eigenen Kinder unterstützen.

Woher kommt dieses Pflichtgefühl?
Wahrscheinlich sind das uralte intergenerationelle Verpflichtungselemente, die in uns Menschen bis heute überlebt haben. Sozialhistorische Studien zeigen, dass vom 16. bis zum 18. Jahrhundert die Kindersterblichkeit in Familien mit Grosseltern tiefer war als in Familien ohne. Engagierte Grosselternschaft war für die nachfolgenden Generationen offensichtlich eine Überlebensstrategie. Den Druck, diesen inneren Verpflichtungsnormen auch heute noch zu entsprechen, machen sich die betroffenen Grosseltern meist selbst. Die Situation ist vergleichbar mit den Töchtern, die meinen, sie müssten ihre alten Eltern pflegen – unabhängig davon, ob sie selber das wollen und die alten Eltern das wünschen.

Also engagiert man sich, bis die Betreuung über die eigenen Kräfte geht?
Heutige Grosseltern fühlen sich meist jung und fit. Es ist ihnen ein Bedürfnis, Zeit mit ihren Enkeln zu verbringen. Anders ist es, wenn die Grosseltern bereits älter und gesundheitlich eingeschränkt sind. Alter und Krankheit sind denn auch die häufigsten Gründe, warum Grosseltern mit der Enkelbetreuung überfordert sind.

Gibt es andere Gründe?
Das zeitliche Engagement kann irgendwann zu gross werden: Grosseltern haben kaum noch Zeit für sich selber, können sich zwischen den Betreuungseinsätzen nicht mehr erholen, alles wird zu viel. Im Übrigen gibt es in der Schweiz – im Gegensatz zu anderen Ländern – kaum Pflegegrosseltern. Die Behörden gehen davon aus, dass die Generationendistanz zu gross ist und die Kraft der Grosseltern für die ständige Betreuung nicht ausreicht.

Wie können Grosseltern der Überforderung vorbeugen?
Grosseltern sollten mit den Eltern ihrer Enkel in regelmässigen Abständen ihr Engagement diskutieren und wo nötig neu aushandeln: Vielleicht gibt es Entlastungsmöglichkeiten für überforderte Grosseltern. Grosseltern können auch einmal ein Jahr lang keine regelmässigen Hütedienste übernehmen. Oder ihr Engagement auf die Ferien, auf ein Wochenende pro Monat oder einen Abend in der Woche beschränken. Sie können ihre Hilfe auch ausschliesslich nur für Notfälle anbieten.

Vielen Grosseltern fällt es schwer, die Erwartungen ihrer erwachsenen Kinder zu enttäuschen. Sie können nicht «Nein» sagen …
Die Eltern akzeptieren in der Regel problemlos, wenn die Grosseltern kürzertreten wollen oder müssen – vor allem, wenn gesundheitliche Gründe vorliegen. Wichtig ist für sie zu wissen, wie weit sie auf die Grosseltern zählen können. Die Häufigkeit spielt weniger eine Rolle; wichtiger sind Regelmässigkeit und Verlässlichkeit: Getroffene Abmachungen müssen eingehalten werden. Diese Sicherheit brauchen nicht nur die jungen Eltern, sondern auch die Enkel. Deshalb ist das Engagement der Grosseltern zwar freiwillig, aber immer auch mit einer Verpflichtung verbunden: Abmachungen können nicht täglich umgestaltet werden!

Sie sind selber vierfacher Grossvater und engagieren sich zusammen mit Ihrer Frau Christina regelmässig in der Enkelbetreuung. Warum?
Zum einen ermöglichen wir damit unserer Tochter, dass sie ihre berufliche Karriere fortsetzen kann. Zum anderen sind die Enkel für uns ein Jungbrunnen. Mit ihnen zusammen zu sein, ist wie ein Sprung mitten ins Leben. Sie haben eine Weltsicht und neue Perspektiven, die älteren Menschen in der Regel verborgen bleiben. Mit ihnen lernt man Neues. Aus eigener Erfahrung weiss ich: Als Grosseltern gewinnt man mehr, als dass man gibt. ❋

Beitrag vom 06.03.2024

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