Mehr Genuss, weniger Leistung
Sex im Alter gilt als Tabuthema. Missverständnisse, Ängste und Schuldgefühle prägen intime Beziehungen und lösen Stress aus. Es geht aber auch anders.
Text: Marc Bodmer
Dieser Beitrag erschien in der Zeitlupe 6/2018
Sex. Alle Welt spricht davon, aber über das eigene Liebesleben reden mag kaum jemand, besonders im Alter nicht. Klar, am Stammtisch werden ab und zu Sprüche geklopft, beim Bier die einen oder anderen Heldentaten der Möchte-gern-Don-Juans zum Besten gegeben, meistens mit dem Zusatz: «Tja, früher, als ich noch jung war …» Doch sonst herrscht meistens Stillschweigen.
Auch Lotta*, 72, die in der Ostschweiz wohnt, kennt dieses Verhalten: «Bei uns daheim wurde nicht über Sexualität gesprochen. Doch ich habe die Lust meiner Eltern gespürt», sagt sie. «Ich habe auch immer gerne durch das Schlüsselloch geschaut, wenn sie in ihr Bett verschwunden sind. Ich liebte die Lustgeräusche, die durch die Türe drangen.»
«Sex war in unserer Familie ein absolutes Tabuthema und stets mit Schuldgefühlen verbunden. Deshalb hatte ich jahrelang kein Vergnügen daran», erzählt Isa*. Sie ist in Brasilien als ältestes von fünf Kindern in einem streng katholischen Haushalt aufgewachsen. «Eine Mischung aus Neugier und ein unbewusstes Bedürfnis, mit meiner strengen Erziehung zu brechen, motivierten mich, trotzdem weiterhin Sex zu erleben. Nachdem ich meine Schuldgefühle abgelegt hatte, konnte ich ihn als göttliches Geschenk geniessen», sagt die 61-Jährige, die seit 1987 in der Schweiz lebt.
So wie bei Lotta und Isa sah es auch bei Paul*, 60, aus: «In meiner Familie war Sex kein Thema.» Aufgeklärt wurde er weder von den Eltern noch in der Schule: «Wir haben damals unter Kollegen darüber gesprochen oder gelegentlich mal ein Bravo-Heftli angeschaut und schliesslich unsere eigenen Erfahrungen gemacht.»
Heute fällt es Paul, der geschieden ist und seit einem Jahr wieder in einer festen Beziehung lebt, leicht, über seine Sexualität und seine Bedürfnisse zu sprechen – mit Fremden. «Ich habe kein Problem, mit jemandem bei einem Kaffee ins Gespräch zu kommen und dabei auch über Sex zu sprechen», sagt er. «Wenn es aber um die eigene Partnerin geht, dann ist es viel schwieriger.» Fremden sei man keine Rechenschaft schuldig, findet er, und: «Ich habe Angst, meine Partnerin mit meinen Wünschen und Vorstellungen zu konfrontieren. Ich möchte sie nicht verletzen.»
«Sex war in unserer Familie ein absolutes Tabuthema und stets mit Schuldgefühlen verbunden.»
Isa*, 61
Oft stellen sich beim Liebesleben und den individuellen Präferenzen viele Fragen: «Ist das normal?», «Wie oft darf, soll oder muss man Sex in der Woche haben?» oder schlicht «Darf man das?» Und: Je älter man wird, desto mehr Zweifel schleichen sich ein, wenn es um die persönlichen Bedürfnisse geht. «Meine Geschichte ist vielen etwas zu schräg», meint Lotta. «Ich lebe meine Sexualität, alle Träume und Sehnsüchte seit drei Jahren ‹nur› virtuell aus.» Mit einem zwanzig Jahre jüngeren und verheirateten Mann pflegt sie eine innige und intime Schreib-Liebe. Persönlich getroffen haben sie sich lediglich drei Mal, was wunderschön gewesen sei.
Mitverantwortlich für diese Verunsicherungen und Ängste sind verschiedene Faktoren.
Im Alter von rund 50 Jahren sinkt bei Frauen der Spiegel der weiblichen Sexualhormone ab. Mit den Wechseljahren gehen einige körperliche Veränderungen einher, die in vielen Fällen zu Beschwerden führen können. Hitzewallungen, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Gewichtszunahme und trockene Schleimhäute schmälern das Wohlbefinden. «Mein Körper ist zu weich geworden», sagt Isa, die sich mit Yoga und Krafttraining in Form hält. «Überall hängt es ein wenig. Das schlägt auf das Selbstvertrauen.»
Sie hat auch das Gefühl, dass sie für ihren Partner, 59, weniger begehrenswert geworden ist, mit dem sie seit 22 Jahren zusammen ist. «Seit rund zehn Jahren haben wir viel weniger Sex als früher, obschon mir Sexualität sehr wichtig ist. Ich liebe es, berührt zu werden, körperliche Nähe und Wärme zu spüren.» Doch ihr Mann hat sich zurückgezogen und nun sie auch. Er mag nicht darüber sprechen. Mehr beiläufig hat er – nachdem er aufgehört hat zu rauchen – darauf hingewiesen, dass er Erektionsprobleme habe.
Was Rauchen mit der Erektion zu tun hat
Was hat Rauchen mit Impotenz zu tun? Verschiedene Studien haben nachgewiesen, dass zwischen dem Tabakkonsum und der sogenannten erektilen Dysfunktion ein direkter Zusammenhang besteht. Werden mehr als 20 Zigaretten pro Tag geraucht, erkrankt der Mann in 65 bis 70 Prozent der Fälle an Erektionsstörungen – auch in jüngeren Jahren. Die im Zigarettenrauch enthaltenen Giftstoffe greifen die Funktionstüchtigkeit der Schwellkörper an. Die Muskeln des Schwellkörpers verlieren in der Folge an Elastizität. Kommt es über einen längeren Zeitraum zu keinen Erektionen, werden die Schwellkörper nicht genügend mit Sauerstoff versorgt, und die Spannkraft nimmt weiter ab. Es kommt zu «Standschäden», wie es die Sexberaterin und Buchautorin Alexandra Haas (siehe Interview), pragmatisch nennt.
Doch von Erektionsproblemen bleiben auch Nichtraucher nicht verschont. Bereits ab 40 Jahren können sich erste Schwierigkeiten bemerkbar machen oder auch nach einem operativen Eingriff wie einer Prostatakrebsoperation. Reichte in jungen Jahren der Anblick eines Décolletés oder der schiere Gedanke an Sex schon für «Bewegung in der Hose», so verkümmern diese sogenannten psychogenen Erektionen mit zunehmendem Alter, bis sie schliesslich ganz ausbleiben. «Mit etwas körperlicher Stimulation kann ein Mann trotzdem eine Erektion und einen Samenerguss haben, auch wenn es etwas länger dauert als früher», schreibt US-Sexberaterin Ruth Westheimer in ihrem Buch «Silver Sex».
«Statt vergangenen Zeiten nachzutrauern, müssen wir lernen, unseren Körper zu akzeptieren.»
Paul*, 60
So locker, wie es Dr. Ruth beschreibt, nehmen es viele Männer nicht. Sie sind konsterniert, wenn es nicht mehr «funktioniert», frustriert und oft zutiefst in ihrer Männlichkeit verletzt. Sie müssen doch ihren «Mann stehen». Ihr Leben lang haben sie Leistung erbracht – im Beruf, Sport, im Bett. Im Idealfall der Frau einen Orgasmus beschert, und nun sollen sie ihre Manneskraft verloren haben? Statt über ihre Situation zu reden und ihre Sorgen zu teilen, ziehen sich Männer oft zurück wie der Partner von Isa und lassen selbst keine Zärtlichkeiten mehr zu. Sie wollen erst gar nicht in eine Lage kommen, in der sie plötzlich als Versager dastehen könnten.
Mit den körperlichen Veränderungen und insbesondere mit deren Auswirkungen auf das Sexualleben werden ältere Erwachsene alleine gelassen, und das Thema anzusprechen, wagen sie oft nicht. «Bei Männern fehlt die Bereitschaft, über ihre sexuellen Bedürfnisse zu sprechen. Das ist das grösste Problem», findet Isa und fragt: «Warum werden Männer dahingehend nicht informiert? Warum wird männliche Sexualität auf die Erektion des Penis reduziert?» Selbst in Zeiten, wo erotische Werbebilder auf Posterwänden verführen, blanke Busen in Zeitschriften blitzen und Hollywoodstars zum Gaudi der Paparazzi öfter ohne Slip unterwegs sind, ist das Wissen um den eigenen Körper an einem kleinen Ort. «In der Pubertät werden wir über die Veränderungen unseres Körpers aufgeklärt. Im Alter fehlen vielfach entsprechende Informationen. Das führt zu Verunsicherung», sagt denn auch Alexandra Haas.
Erschwerend kommt hinzu, dass bei Männern und Frauen die Idee verbreitet ist, dass halt ab einem gewissen Alter Schluss mit Sex sei. «Wenn Sie mit der Vorstellung aufwachsen, dass Sie im Alter nicht begehrenswert sind und Ihnen diese Botschaft Ihr Leben lang vermittelt wird, dann wird das zu einer ‹sich selbst erfüllenden Prophezeiung›, und Ihre Erwartung wird dementsprechend auch eintreffen», wettert Sexualtherapeutin Ruth Westheimer. Auch Paul tut sich schwer mit dieser Vorstellung: «Klar sind wir keine 20 Jahre mehr, aber damit müssen wir klarkommen. Statt vergangenen Zeiten nachzutrauern, müssen wir lernen, unseren Körper zu akzeptieren. Egal, wie er aussieht, jeder hat etwas Schönes.»
Mit 72 Jahren eine Beziehung mit einem 20 Jahre jüngeren Mann zu pflegen, hat auch bei Lotta Fragen zur Körperlichkeit geweckt: «Zu meinen Zweifeln meinte mein Partner: ‹Ich liebe die Geschichten, die ich in und auf deinem Körper finde.› Das macht mich sicher und frei.»
Nicht alle haben das Glück, so verständnisvolle Partnerinnen und Partner in ihrer Beziehung zu finden. Verschärft wird die fehlende Bereitschaft, darüber zu sprechen, durch Erwartungshaltungen und persönliche Vorstellungen, die auf das Gegenüber projiziert werden. Die gängigen «Ich ha gmeint …»- oder «Du häsch doch immer …»-Muster erweisen sich besonders in einer intimen Partnerschaft als Beziehungsgift. Hier hilft nur, sich einen Ruck zu geben und sich beispielsweise bei einem guten Glas Wein offen auszutauschen. Das klappt vielleicht nicht auf Anhieb: «Ich bezweifle, dass es den Leuten erst über den ‹Alterssex› schwerfällt zu sprechen. Wer den Austausch über Wünsche, Ängste, Sehnsüchte, Gefühle und Fantasien nicht lebenslang gelernt und geübt hat, wird diese Türe im Alter nur noch schwer öffnen können. Aber jetzt sind die 68er alt, und ich hoffe auf offene Gespräche», sagt Lotta.
«Viele Menschen trauen sich erst im Alter, bezüglich ihres Sexuallebens etwas zu verändern», weiss denn auch Alexandra Haas. Dazu gehört, dass man seinen älteren, veränderten Körper besser kennen- und damit auch schätzen lernt. «Klar, es zwickt mal hier und dort, das Knie schmerzt, und ich schimpfe über dieses oder jenes Wehwehchen. Aber mein Körper ist mein treuer Begleiter und meine persönlichste Hülle», erklärt Lotta. Yoga, Massagen und viel Zeit für sich helfen, den Körper zu spüren, zu entdecken. Und vor allem gilt eines, wie es Paul mit Blick auf seine männlichen Kollegen zusammenfasst: «Mehr Genuss, weniger Leistung!»
* Die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.
«Der Körper hat kein Ablaufdatum für Sex»
Lesen Sie hier das Interview mit Sexberaterin und Buchautorin Alexandra Haas über Sex ab 60, körperlichen und psychischen Leistungsdruck und Vibratoren.
zum Interview
Schwerpunkt «Liebe ist…»
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