Gedanken über das Altwerden
Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Heute: Richard Knecht über Zukunftsgedanken und das Älterwerden.
Geschätzte Zeitlupe-Redaktion,
ich erlaube mir, Ihnen einen kurzen Text zuzusenden: Altwerden aus einer Sichtweise, die es ebenfalls verdient, erwähnt zu werden.
Mit herzlichen Grüssen,
Richard Knecht
Gedanken über das Altwerden
Jahrzehntelang schob ich die Zukunft vor mir her. Doch jetzt, da ich alt werde, habe ich sie einfach stehen lassen. Bin an ihr vorbeigegangen, habe ihr zugelächelt und auf die Schulter geklopft. Seither lebe ich in der Gegenwart, sammle Augenblicke und widme mich der Entdeckung von Kleinigkeiten. Gehe gerne die gleichen Wege, besuche ab und zu die Vergangenheit und wühle in den Erinnerungen.
Wieder einmal betrachte ich die Fotografie von dir als junge Frau. Und ich danke dem Zufall dafür, dass er mir einen Stuhl freigehalten hat an jenem Tisch, an dem du sassest, als ich das Restaurant betrat. Sechs Monate später haben wir geheiratet. Seither sind neunundvierzig Jahre vergangen.
Was bedeuten schon weisse Haare, ein paar Falten oder Medikamente, die man einnehmen muss. Altwerden bedeutet nicht, dass man nicht mehr lieben kann. Das einzige, wovor ich mich fürchte, ist, dass die Liebe so stark sein kann, dass sie nur schwer einen Überlebenden erträgt.
Richard Knecht lebt seit 2008 im Glarnerland. Seit 2009 ist er freiberuflich als Dichter tätig. In seinem Buch «Meine Heimat ist das Leben» ruft er die Leserschaft auf, einzutauchen in eine langsamere und dafür bedeutungsreichere Zeit, um sich selber zu fragen: «Was ist meine Heimat? Bin ich bei mir angekommen?». Linthverlag, 2021