«Wir vermissen unsere Donnerstage sehr»
Auch die Seniorenvereinigung Schöftland und Umgebung wurde vom Coronavirus ausgebremst. Ein Gespräch mit 2 der 330 Mitglieder über Verluste, Verantwortung und Vereinsamung.
Text und Interview: Fabian Rottmeier (seit seiner Recherche 2018 jüngstes Passivmitglied der Seniorenvereinigung)
Die Corona-Pandemie hat viele hart getroffen, auch die Seniorenvereinigung Schöftland und Umgebung. Denn normalerweise treffen sich Donnerstag für Donnerstag – bei jedem Wetter – rund 50 der ausschliesslich männlichen Mitglieder, um zusammen eine Wanderung oder eine Besichtigung zu unternehmen. Stattdessen müssen sie nun darauf verzichten – und per E-Mail davon lesen, wie sie langjährige Kameraden an Covid-19 verlieren.
Die Zeitlupe hat die vor 45 Jahren gegründete Seniorengruppe vor drei Jahren auf einer Wanderung begleitet (hier gehts zum Artikel). Wie ist es der Vereinigung mit ihren stolzen 330 Mitgliedern seit März 2020 ergangen, als die Corona-Pandemie so vieles auf den Kopf gestellt hat? Fabian Rottmeier hat sich mit Obmann Benno Beck und Andreas Schweizer, Mitglied des Ausschusses, per Videotelefon unterhalten.
Ein Gespräch mit Benno Beck (li.) und Andreas Schweizer
Der gemeinsame Donnerstagnachmittag mit Ihren Kollegen ist ein Fixpunkt in Ihrer Agenda. Seit März 2020 sind diese Treffen bloss im vergangenen Sommer möglich gewesen. Wie gehen Sie damit um?
Benno Beck: Die meisten von uns vermissen diese gemeinsamen Erlebnisse sehr. Als Obmann komme ich mit einer breiten Gruppe von Mitgliedern in Kontakt, da ich möglichst vielen telefonisch zum Geburtstag gratuliere. Das ist sehr spannend, aber auch aufwühlend. Die einen leiden sehr unter der Situation; andere gehen relativ unbeschwert und fatalistisch damit um. Aber für uns im neunköpfigen Ausschuss der Seniorenvereinigung war mit den verschärften Bestimmungen des Bundesrats sofort klar, dass wir die Verantwortung für gemeinsame Wanderungen nicht länger übernehmen konnten. Ich habe mich in dieser Zeit auch etwas mit dem Begriff «Verantwortung» auseinandergesetzt. Dabei bin ich auf eine treffende Definition gestossen: «Dafür zu sorgen, dass alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jederzeit Notwendige und Richtige zu tun, dass möglichst kein Schaden angerichtet wird.» Oft wird Verantwortung auf den Schadensbegriff reduziert.
Andreas Schweizer: Ich finde, dass unsere Kameraden bis heute sehr gut und sachlich mit den Einschränkungen umgehen. Alle akzeptieren die Entscheide, auch diejenigen, die gerne etwas weniger streng wären. Als wir Mitte März zum ersten Mal einen Ausflug absagen mussten, war das Verständnis gross. Im Oktober wiederholte sich das Ganze bei einer geplanten Besichtigung bei Victorinox. Bei der Ankündigung antwortete ein Mitglied: «Vielen Dank für die traurige Mitteilung. Jetzt ist es halt so. Wir können nichts ändern an der Sache, nur gut aufpassen. Schade, aber ich hoffe, dass alle die Pandemie gut überstehen und wünsche euch alles Gute und bliibed gsund.» Diese Haltung ist für die meisten stellvertretend, sowohl in unserer Wandergruppe als auch in unserer Koch-, Chor- und Turner-Gruppe.
Haben Sie Ihr Programm im Sommer 2020 wieder aufgenommen?
Beck: Ja, im Juni. Bei den ersten drei Wanderungen zogen wir direkt von Schöftland aus los – ohne ÖV-Benutzung und ohne Restaurantstopps. Wir waren 20 bis 25 Leute, was etwa der Hälfte der üblichen Teilnehmerzahl entspricht. Bis anfangs Oktober haben wir unser reguläres Programm dann wieder hochgefahren – allerdings nur mit Aktivitäten an der frischen Luft und den notwendigen Schutzmassnahmen. Insgesamt mussten wir 2020 auf die Hälfte der 50 geplanten Aktivitäten, die meisten davon Wanderungen, verzichten.
Schweizer: Wir haben im Sommer auf unseren Fahrten im gemieteten Reisecar bereits dann eine Maskenpflicht eingeführt, als diese vom Bund noch nicht vorgeschrieben war.
Beck: Es gab lediglich ein Mitglied, das aus unserer Seniorenvereinigung ausgetreten ist, weil es nicht damit einverstanden war, dass wir unseren Betrieb wieder aufgenommen haben. Es kam jedoch eher vor, dass man uns dazu ermunterte, wieder zusammen loszuwandern, da es doch auch darum gehe, etwas für die psychische Gesundheit unserer Mitglieder zu tun, so die Meinung.
Bieten Sie Ihren Kollegen auch eine virtuelle Alternative an, eine gemeinsame Videotelefonrunde etwa?
Schweizer: Die Ausschuss-Sitzungen führen wir als Zoom-Meeting durch. Für einen Teil der Mitglieder ist das etwas schwierig. Bereits der Umgang mit dem Smartphone ist für einige von uns eine Hürde.
Beck: Der eine oder andere hat noch einen alten «Knochen» …
Schweizer: Benno hat in seinen E-Mails alle Mitglieder immer wieder ermuntert, sich gegenseitig anzurufen und so den Kontakt untereinander aufrecht zu erhalten.
Wie gross ist die Gefahr der Vereinsamung in Ihren Reihen?
Beck: Dieses Thema ist nicht einfach zu handhaben. Ich gehöre auch der Alterskommission der Gemeinde Schöftland an. Wir sprechen dort oft über Vereinsamung – und mussten feststellen, dass es schwierig ist, an die betroffenen Personen heranzukommen. Einerseits, weil man sie nur schwer ausmachen kann, aber auch, weil sie selbst nichts dagegen unternehmen. Und wenn man doch jemanden erreicht, trifft man meist auf eine ablehnende Haltung. Die Leute wollen ihre Vereinsamung selten wahrhaben. Anhand der Geburtstagsanrufe konnte ich in unseren Reihen immerhin einige Betroffene ausmachen. Doch die meisten nehmen nur sehr selten an unserem Programm teil. Mir fällt noch ein allein lebendes Mitglied ein, von dem ich dachte, dass ihm die Corona-Zeit bestimmt arg zusetzen würde. Als ich mich telefonisch bei ihm erkundigte, sagte er, er hadere nicht mit der Situation. Er sei es sich gewohnt, alleine zu sein. «Das kenne ich seit Jahrzehnten», sagte er.
Schweizer: Als ich mich nach meiner Pensionierung der Vereinigung anschloss, war ich überrascht, wie viele aktive, tolle, gut gelaunte und kreative Menschen ich angetroffen habe. Anstelle von alten Männern begegnete ich hoch interessanten Typen, die etwas zu erzählen haben, aber auch zuhören können. Dies beeindruckt mich wirklich sehr.
© Brigitte Mathys
Corona trifft vor allem die ältere Generation schwer. Zwischenzeitlich mussten Sie fast wöchentlich per Mail über verstorbene Mitglieder informieren.
Beck: Wie viele davon an einer Covid-19-Erkrankung verstorben sind, wissen auch wir nicht. Aber unsere selbst geführte Statistik spricht Bände: Normalerweise sterben bei uns jährlich sieben bis neun Mitglieder. Im Grippe-Jahr 2015 waren es 15. 2020 beklagten wir 21 Todesfälle. Diese Zahlen sind unmissverständlich.
Pflegen Sie in Zeiten ohne Abdankungsfeier ein neues Ritual, um den verstorbenen Kameraden zu gedenken?
Beck: Das ist leider sehr schwierig. Aber wir senden den Hinterbliebenen immer eine Beileidskarte. Vor der Corona-Pandemie habe ich so oft wie möglich versucht, auch an den Abdankungsfeiern teilzunehmen. Es war immer schön zu sehen, wie viele unserer Mitglieder ebenfalls anwesend waren. In Coronazeiten ist das gewohnte Abschiednehmen nicht mehr möglich, was wir natürlich bedauern. Als ich mich als Obmann zur Verfügung stellte, dachte ich, die Beerdigungen seien ein Nachteil dieses Amtes. Ich stellte jedoch rasch fest, dass mir diese Trauerfeiern gut tun – und mich zum Nachdenken anregen. Ich fragte mich: «Musste dieser feine Mensch tatsächlich sterben, damit ich so viel über sein Leben erfahre? Weshalb habe ich mich nicht öfters mit ihm unterhalten?» Heute versuche ich, mit möglichst vielen verschiedenen Mitgliedern ins Gespräch zu kommen auf unseren Wanderungen.
© Brigitte Mathys
Planen Sie später eine kollektive Trauerfeier?
Beck: Nein, aber wir gedenken unseren Verstorbenen immer an der Jahresversammlung, die heuer im Juni statt im Februar stattfinden soll. Jedes verstorbene Mitglied wird namentlich und mit einer charakterisierenden kurzen Rede erwähnt. Die in der Regel rund 100 Anwesenden schätzten dies sehr. Dieser Teil wird an der nächsten Versammlung nun leider etwas länger ausfallen. Im Grippejahr 2015 kürzten wir die einzelnen Würdigungen wegen der vielen Todesfälle etwas. Das kam bei einigen nicht gut an.
Wie fühlt es sich an, Freunde zu verlieren, ohne sie gemeinsam betrauern zu können?
Schweizer: Wenn man mit jemandem vor kurzem noch eine Wanderung gemacht hat und er dann unerwartet verstirbt, fühlt man sich traurig und ohnmächtig. Oftmals sind die Verstorbenen jedoch hochaltrige Mitglieder, die ich nie persönlich kennengelernt habe.
Beck: Genau. Der persönliche Bezug zu den Verstorbenen ist sehr unterschiedlich. Bei all jenen, die ich nicht kannte, schaue ich jeweils nach, ob sie in den letzten fünf Jahren auf einem Ausflug mit dabei waren. So ist es menschlich, dass die Betroffenheit unterschiedlich stark ausfällt. Ein Mitglied beschwerte sich kürzlich, wir sollen doch endlich aufhören, alle Todesanzeigen zu verschicken. Er empfand sie jedes Mal als Schlag ins Gesicht. So sehr ich auch Verständnis für ihn habe, so wenig können wir diese Todesfälle den Mitgliedern vorenthalten. Dazu fällt mir noch eine Anekdote ein: Auf die Frage, was er einmal tun werde, wenn er pensioniert sei, hörte ich an einer Tagung ein hochrangiges Kadermitglied sagen: «Am Morgen bleibe ich im Bett, lese die Tageszeitung, und wenn ich nicht unter den Todesanzeigen bin, dann stehe ich auf.» Ein bisschen Wahrheit steckt durchaus in dieser Aussage.
Inwiefern wird die Pandemie die Seniorenvereinigung langfristig prägen?
Schweizer: Ich denke nicht, dass ein langfristiger Effekt erkennbar sein wird.
Beck: Uns wird sie nachhaltig nicht stärker treffen als den Rest der Gesellschaft, denke ich. Als wir unser Programm im letzten Sommer wieder aufnahmen, kamen anfänglich nur halb so viele auf die Wanderungen mit als sonst. Innert Kürze erreichten wir jedoch wieder unsere übliche Gruppengrösse von 40 bis 50 Personen.
Weitere Infos zur Seniorenvereinigung Schöftland und Umgebung: senioren-schöftland.ch, Telefon 062 721 31 48
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