Adventssonntag 5. Dezember 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einer rockenden Kirche und einem Friedhofsbesuch.
Die vier Probeabende mit dem weihnächtlichen Gospelchor in Ostermundigen, wo ich aufgewachsen bin, sind vorbei. Am ersten Adventssonntag steht der Auftritt in der reformierten Kirche an. Die eingängigen Melodien erfüllen den hohen Raum, das zumeist ältere Publikum lässt sich begeistern, und wir Sängerinnen und Sänger singen uns zu Hochform auf. In mir erwacht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Beim bekannten Schlusslied «Rock my Soul» singt und klatscht die ganze Gemeinde mit. «Die Kirche rocken», das hätte sie sich schon lange einmal gewünscht, sagt die junge, sympathische Pfarrerin.
Sie trägt ihren Talar mit einem roten Halstuch. Bei der Predigt geht sie im Chor auf und ab. Sie redet von Maria, die sich auf das Kind freut. Und vom Kind, das die Welt retten wird. Ich beneide sie nicht: Was gibt es angesichts dieser aus den Fugen geratenen Welt schon Tröstendes zu sagen? Der Retter müsste sich langsam beeilen.
Auf dem Kirchplatz – auf dem ich als Kind Rollschuh gefahren bin, die ersten Veloversuche gemacht und mit Gleichaltrigen aus den umliegenden Häusern Versteckis, Fangis oder Blinde Kuh gespielt habe – gibt es für alle Punsch und Weihnachtsgebäck. Ich fühle mich wohl und freue mich, alte und neuere Bekannte zu sehen.
Spontan beschliesse ich, noch auf dem Friedhof bei meinen Eltern vorbeizugehen. Vor der Aufbahrungshalle steht ein kleines Tannenbäumchen mit einer farbigen Lichterkette. Darunter liegen Kinderzeichnungen, Engelsbilder und Abschiedsworte in spanischer Sprache. Kerzen brennen. Ob in der Aufbahrungshalle ein totes Kind liegt?
Nachdenklich gehe ich den Weg bis zum Gemeinschaftsgrab am Waldrand. Die Stehle mit dem Namen meines Vaters finde ich wie immer auf Anhieb. Eine Frau steht davor. Sie küsst ihre Fingerspitzen, dann streichelt sie damit zärtlich über einen der aufgelisteten Namen. Ich warte. Als sie weggeht, sehe ich ihre verweinten Augen. Neben dem Namen des jüngeren Mannes, den sie so sanft berührt hat, klebt ein winziges, rotes Herz. Der an Weihnachten angekündigte Retter hätte viel zu tun. Selbst hier, bei uns.
In der deutschen Stadt Münster befindet sich eine der ältesten katholischen Sakralbauten, die aus dem 12. Jahrhundert stammende Kirche St. Ludgeri. Bei einem Bombenangriff 1944 wurde sie fast ganz zerstört. Die hölzerne Christusskulptur am Kreuz verlor dabei beide Arme. Als nach dem Krieg der Wiederaufbau begann, beschloss die Kirchgemeinde, die armlose Figur so zu belassen. Auf dem Querbalken wurde der Text angebracht: «Ich habe keine anderen Hände als die Euren.»
Nicht nur warten und hoffen, sondern viel mehr wagen und handeln. Was für ein schöner Gedanke zum ersten Advent!
- Wie oder wo finden Sie angesichts der Probleme auf dieser Welt Trost? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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