Ahnenkette 22. März 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Grossmutters Möbeln und dem Lauf der Generationen.
Am Samstag ist Putztag. In meinen Bereich gehören die Schlafzimmer. Aus schnarchtechnischen Gründen haben wir den grossen Raum unter der Dachschräge mit einer Schiebetür in zwei kleine unterteilt. «Chnächte-Gade» nennt mein Mann mein Zimmer. Ich verbringe die Nächte nämlich in den Möbeln meiner Grossmutter väterlicherseits, einer Bauerntochter aus dem Emmental: Ein hohes Bett mit einer Rosshaarmatratze, ein Tisch mit einem Stuhl und eine Kommode aus Kirschbaumholz. «Schubladenstock» hiess dieses Möbelstück in der Stube meiner Grosseltern, bei denen ich als Kind wochenlange Ferien verbrachte.
Die Kommode war für mich eine geheimnisvolle Schatztruhe. In der untersten Schublade gab es Spiele – Domino und Eile mit Weile, ein Halma, ein Hüetli- und ein Flohspiel. Die besonderen Schätze aber fanden sich in der obersten Schublade: Eine Schachtel mit Hochzeitfotos meiner Grosstanten Mina, Rosa, Julia, Hanna, Frieda und Anna. Der dunkelblau-melierte Füllfederhalter meiner Grossmutter Emma. Und da gab es auch noch dieses kleine, mit schwarzem Samt ausgelegte Kästchen. Darin lag das Kostbarste und Schönste, das ich kleiner Knopf je gesehen hatte: Eine goldene Brosche, an der ein Bärenfigürchen baumelte – das Verlobungsgeschenk meines Grossvaters für meine Grossmutter.
Mit einem weichen Lappen wische ich über die Möbel und denke, was für ein geliebtes, behütetes und geborgenes Kind ich in meinem Grosselternhaus doch gewesen bin. Zuletzt wische ich den Staub vom Bild, das schon damals über dem Schubladenstock hing: «Mis Hei» steht in verschnörkelter Schrift unter der Zeichnung des stattlichen Bauernhauses, in dem meine Grossmutter aufgewachsen war. Ich erinnere mich an das Katzenkopfpflaster mit dem Berner Wappen vor dem Haus, den von Buchs gesäumten Bauerngarten, die Kirschbäume entlang der Zufahrt zum Haus.
Die Familienlegende besagt, dass mein Urgrossvater für die Aussteuer jeder seiner Töchter einen Kirschbaum gefällt habe. Plötzlich kommt mir ein Gespräch mit Franz Hohler in den Sinn. Er sehe sich als Glied in der langen Kette seiner Vor- und Nachfahren, sagte der Schriftsteller. Wie Perlen würden Generationen aus dem Dunkeln auftauchen und wieder verschwinden. Das Bild hat mir gefallen. Längst sind meine Urgrosseltern, Grosseltern und Eltern wieder verschwunden. Als Älteste meiner Generation werde auch ich in nicht allzu ferner Zukunft ins Dunkel zurückkehren. Doch nach mir leuchten bereits weitere Perlen, und wenn sie vergehen, kommen nächste nach.
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