Der ewige Schnee 16. August 2022
Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von trockenen Feldern und kahlen Bergen.
Ich bin mit dem Hund auf dem «Moos» unterwegs, der Talebene zwischen Längenberg und Belpberg. Die Gürbe führt nur noch knöcheltief Wasser. Die Steinbrocken im Flussbett bilden eine eigene Landschaft, wie ich sie noch nie gesehen habe. Im Weg haben sich tiefe Risse geöffnet, stoppelgelb zieht sich der Hang in die Höhe. Das Gürbebord ist staubig, die Felder sind trocken. Selbst der Weisskohl, Wahrzeichen des «Chabisland», wie das Gürbetal immer noch genannt wird, bietet einen traurigen Anblick. «Der Chabis mues braate, wenn er söu graate», sagt der Gürbetaler Volksmund. Doch jetzt ist es auch ihm zu heiss.
Der Blick hinüber zu Eiger, Mönch und Jungfrau tut richtig weh. Wo sind die schneebedeckten Alpengipfel geblieben? Das berühmte Dreigestirn präsentiert nur noch graue Flanken und nackte Felswände. Der Eisstrom zwischen Eiger und Mönch ist zu einem schmalen Band geschmolzen, und nur noch wenige Schneefelder zieren die Jungfrau. Schon vor Wochen wagte ich kaum noch Richtung Oberland zu schauen, weil mir der Anblick Angst machte. Inzwischen muss es allen auffallen: Etwas stimmt ganz und gar nicht mehr.
Manchmal wandelt sich meine Angst in Wut, manchmal in Resignation. Ich spüre, wie mir mein Optimismus angesichts von Feuer, Dürre, Hunger und Krieg immer mehr abhandenkommt. Lange konnte ich mich dagegenstemmen. Ich war mit Martin Luther überzeugt: «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen». Wie einen Schutzschild habe ich meinen Optimismus vor mir hergetragen. Was auf meinem Lebensweg lag, liess sich so leichter bewältigen. Doch jetzt kostet er mich immer mehr Kraft.
In unserer Tageszeitung lese ich von einer englischen Studie an zehntausend Jugendlichen aus aller Welt, die zur Klimakrise befragt wurden. Drei Viertel von ihnen fürchtet sich vor der Zukunft. Mehr als die Hälfte glaubt, die Menschheit sei dem Untergang geweiht. Die Studienleiterin Caroline Hickman und ihr Team sind beunruhigt über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Psyche der jungen Menschen. Die Wissenschaft hat dafür sogar einen Namen: «Climate Anxiety», auf Deutsch Klima-Angst. Forschende selber leiden an ihren Forschungsergebnissen. «Wenn ich mich frage, wie unsere Welt in fünfzig Jahren aussieht, dann zerreisst es mich manchmal», sagt Reto Knutti, Klimaforscher an der ETH Zürich und Vater von zwei kleinen Kindern.
Ich setze mich auf die Bank neben dem kleinen Brunnen, an dem Spaziergängerinnen und Vierbeiner ihren Durst löschen können. Noch gibt es genügend Grundwasser. Eine alte Birke spendet Schatten. Ich kann den Blick nicht von Eiger, Mönch und Jungfrau lassen. Ich versuche, für meine Kolumne einen versöhnlichen Schluss zu finden. Es will mir partout nicht gelingen.
- Wie gehen Sie mit den Auswirkungen der Klimakrise um? Wie steht es um Ihren Optimismus bezüglich unserer Zukunft? Lassen Sie uns doch an Ihren Gedanken teilhaben. Oder teilen Sie die Kolumne mit anderen. Herzlichen Dank im Voraus.
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