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Die rote Zora (2) 17. Januar 2022

Die ehemalige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (70) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Kindheitserinnerungen und dem Füllhorn des Lebens. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ich sitze mit der Kleinen im Winterzauber-Zelt auf dem Mühleplatz in Thun und lasse mich von der Theatervorstellung «Die rote Zora» mitreissen. Wie hatte ich anno dazumal dieses Kinderbuch verschlungen: Verwegen und tapfer hatte ich mit der mutigen Zora die Bande der Uskoken angeführt und sämtliche Schlachten gewonnen. Während ich den Laienschauspielerinnen und -spielern in der Manege folge, fallen mir immer mehr Namen und Details wieder ein: Duro hiess das Bandenmitglied, das ich schon als Kind nicht mochte. Begovic und Dordevic waren die Dorfpolizisten, die auch im Theater keine Leuchten sind.

In den langen Sommerferien bei meinen Grosseltern auf dem kleinen Bauernhof im Oberaargau spielte ich tagelang «Rote Zora». Überall hin begleitete mich meine imaginäre Bande. Beim Velofahren mit dem schwarzen Fahrrad meiner Grossmutter, mit Rücktritt, folgte sie mir in Einerkolonne. Pavle, der Älteste, war das Schlusslicht. Manchmal musste ich an einer Kreuzung auf ihn warten – er war ja der langsamste. Mochten die Autos hupen, als rote Zora konnte mir das rundum egal sein. Ich ging mit meiner Bande auch regelmässig zur Frühmesse und musste jeweils eine halbe Bankreihe für sie freihalten.

Die Bande lernte ebenfalls Stelzenlaufen und musste als Prüfung die Treppe zur Heubühne hochsteigen. Der schwerfällige Pavle brachte es nie über zwei Stufen hinaus. Nicolas hingegen war zwar der Jüngste, aber wendig und flink, und schaffte fast immer die ganze Treppe. Der Höhepunkt der Sommerferien kam jeweils, wenn ich mit dem Velo zu den Verwandten meiner Grossmutter in die Wynigenberge fahren durfte. Was kümmerten mich die Ermahnungen meiner Grossmutter, mir nicht von den Italienern auf den Baustellen hinterher pfeifen zu lassen! Ich war die rote Zora und mit meiner Bande unverwundbar.

Ich fühle mich wieder als das fröhliche und phantasievolle Mädchen, das ich einst war. Wie in einem spannenden Kinderfilm reihen sich meine Ferienerlebnisse aneinander. Wo kommen nur all die Erinnerungen her? So lebendig wie sie sind, können sie nicht aus einer fernen Vergangenheit stammen. Ich komme ins Sinnieren: Vielleicht ist das Leben ja nicht eine Zeitlinie, die irgendwo ihren Anfang nimmt und irgendwann in der Zukunft endet. Vielleicht ist es eher ein Füllhorn, dessen Trichter sich nach oben weitet. In ihm liegen die Erfahrungen und Erinnerungen eines ganzen Lebens nah beieinander.

Das Sinnbild vom Füllhorn gefällt mir. Wie weit sich mein Lebenstrichter noch öffnet, weiss ich nicht. Ein Gedicht von Rainer Maria Rilke kommt mir in den Sinn: «Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.»


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Beitrag vom 17.01.2022

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