«Du bist ja sooo dumm» 22. November 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einer musikalischen Weltreise, allumfassenden Gefühlen und kleinlichem Alltag.
«Nkosi Sikelel’i Afrika» stimmt der Chor an. Das südafrikanische Lied, eine politische Hymne, beginnt langsam und verhalten. Dann wird die Musik immer schneller und lauter, das Orchester wirbelt, der senegalesische Perkussionist gibt den Rhythmus vor, die Sängerinnen und Sänger gehen mit. Ein Paar aus Zentralafrika, beide in farbenfrohen Gewändern, schiebt sich vor Chor und Orchester und beginnt zu tanzen. Das Publikum klatscht den Rhythmus mit, schliesslich endet das Lied in einem letzten, lauten Wirbel. Das Konzert ist zu Ende. Einen Moment lang ist es still, dann bricht tosender Applaus los.
Ich hatte mich überwinden müssen, die warme Wohnung zu verlassen. Aber das Plakat des Chor der Nationen, das seit Wochen an der Wand in unserer Garderobe hängt, lockte mit bunten Bildern und dem Titel «Tradition bewegt». Also machte ich mich auf den Weg. Die Musik würde meiner Seele im aktuellen Novembergrau und umgeben von Corona-Gehässigkeiten guttun. Ich bin früh genug in Bern, um den Spaziergang die Altstadtgassen hinunter zur Konzertkirche zu geniessen. Plakate machen auf die Strassensperrung am Montag aufmerksam: Zibelemärit. Ich habe glücklicherweise schon lange nicht mehr das Gefühl, ich müsse mich ins Getümmel stürzen.
Trotz nasskaltem Wetter, der 3G-Regel und der Corona-Vorsicht, die in der Luft liegt: Fast alle Bänke sind besetzt, als der Chor der Nationen das Konzert mit «Malaika» eröffnet, einem Lied aus Tansania. Es folgen Lieder aus Syrien und dem Iran, aus Kuba und Griechenland. Mit «Weischus dü» aus dem Wallis und einem arabischen Friedensgruss geht es weiter. Die Sängerinnen und Sänger aus über zwanzig Nationen, viele in ihrer Landestracht, bieten einen bunten Strauss von Melodien aus aller Welt: Ein amerikanisches Spiritual, eine Volksweise aus Schweden, der Gefangenenchor aus Nabucco.
Die Lieder stammen aus so vielen Konfliktregionen der Welt und vereinen doch die Gefühle aller Menschen, wenn sie von Liebe und Sommer, Frieden und Sehnsucht, Heimat und Schönheit singen. Noch auf der Heimfahrt bin ich erfüllt von Musik und schwebe in einem glückseligen Zustand von Zuneigung und Zuversicht, von Hoffnung und so etwas wie allumfassender Liebe.
Wo nur ist dieses Gefühl in meinem ganz normalen Alltag geblieben? Beschämt denke ich an den Tag zuvor, als ich meine Hundefreundin aus dem Nachbardorf getroffen habe. Eigentlich wollten wir nicht mehr von Corona reden. Aber es klappt nicht. Worte fliegen hin und her. Schliesslich sage ich: «Du bist ja sooo dumm.»
Eigentlich habe ich gemeint, ich sei einigermassen gesittet. Und auch tolerant. Meine gehässigen Worte sind für mich kein gutes Zeichen. Ich verliere die Geduld. Wie es mit Anstand und Toleranz schweizweit steht, will ich mir im Moment nicht ausmalen.
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