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Echte Probleme? 6. September 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Winnetou, den es heute nicht mehr geben darf. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Vom Mann unserer Nichte bekomme ich per WhatsApp ein Bild: Auf der oberen Hälfte parlieren arabische Männer in ihrem rot-weiss karierten Kopftuch, der sogenannten Ghutra. Darunter steht Konfitüre, die Gläser zugeschraubt und die Deckel – wie zumindest im Bernbiet vielerorts üblich – mit einem Stücklein rot-weiss kariertem Stoff dekoriert. Dazu die Frage: Kulturelle Aneignung? Zuerst muss ich lachen. Dann schüttle ich den Kopf. Ich verstehe die Diskussionen um «Cancel Culture», «Wokeness» oder «kulturelle Aneignung» nicht. Wer sagt, dass weisse Band-Mitglieder keine Rasta-Zöpfchen tragen und Winnetou-Filme aus den Fernseh-Programmen gestrichen werden sollen? Und warum sollte man Menschen aus einem anderen Land nicht mehr nach ihrer Heimat fragen dürfen? 

Ich erinnere mich, wie meine lebenslange Freundin und ich Blutsbrüderschaft schlossen – wie Winnetou und Old Shatterhand. An einem freien Nachmittag entwendeten wir das Pfadi-Messer meines Bruders und radelten in den nahen Wald. Es dauerte eine Weile, bis ich Angsthase mir mit der Messerspitze einen Bluttropfen abringen konnte. Aber es war ein erhabener Augenblick, als wir unsere Unterarme mit den winzigen Wunden aneinanderlegten und uns ewige Freundschaft schworen. Als Kind wollte ich tatsächlich heldenhaft und stolz sein wie Winnetou, oder zumindest so schön wie seine Schwester Nscho-tschi oder Ribanna, seine Freundin. «Ribanna, Ribanna, in deinen Haaren weht der Wind …» Ich könnte den Schlager von anno dazumal heute noch singen.

In der Berner Brasserie Lorraine wurde ein Konzert der Band «Lauwarm» abgebrochen und ein zweites abgesagt: Die Rasta-Frisuren zweier Bandmitglieder und ihre Reggae-Musik hatten zum «Unwohlsein» einiger Gäste geführt. Aufgrund negativer Kritik stoppte der Ravensburger Verlag die Auslieferung einer Winnetou Kinderbuchreihe und entschuldigte sich ausdrücklich dafür, mit den Titeln die Gefühle anderer verletzt zu haben. Meine Marburger-Freundin wagt schon gar nicht mehr, jemanden nach seiner Herkunft zu fragen – zu sehr sei die Debatte um Rassenvorurteile und Diskriminierung und vor allem um alles, was noch dazugehören könnte, in ihrem Land aufgeheizt. 

Aus meinem dunkelblauen, afrikanischen Gewand mit dem golddurchwirkten Kragen bin ich schon lange hinausgewachsen – die Frage erübrigt sich, ob ich es überhaupt noch tragen dürfte. Längst weiss ich um den Genozid an der indigenen nordamerikanischen Bevölkerung, Winnetous Zauber hat mich vor der Realität nicht bewahrt. Die innige Freundschaft mit meiner Blutsschwester hingegen hat bis zu ihrem Tod vor fünfzehn Jahren gehalten. Ich lasse mich nicht davon abhalten, den Surprise-Verkäufer auf dem Samstagsmarkt nach seiner Herkunft zu fragen. «Aus Äthiopien» sagt er in gutem Deutsch, und ich erzähle, dass ich ein Jahr im Niger gelebt habe. Schon sind wir mitten im Gespräch. 


  • Wie gehen Sie mit «Cancel Culture», «Wokeness» oder «kultureller Aneignung» um? Lassen Sie uns doch an Ihren Gedanken teilhaben. Oder teilen Sie die Kolumne mit anderen. Herzlichen Dank im Voraus.

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Beitrag vom 06.09.2022

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