Geschenkte Zeit 26. Oktober 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Nachrichten-Abstinenz, neuer Zuversicht und Dankbarkeit.
Nur noch eine Stunde und einunddreissig Minuten! Vor einer Woche sind es drei Stunden und vier Minuten gewesen. Nach sieben Tagen Nachrichten-Abstinenz hat sich mein Handykonsum halbiert und meine Lebensfreude verdoppelt: Seit ich mich nicht mehr stundenlang mit tristen Corona-Meldungen eindecke, spüre ich wieder ein Stück Leichtigkeit und Zuversicht. Damit es so bleibt, lösche ich ausser meiner Tageszeitung alle News-Portale, auf denen ich so viel Zeit und Energie vertrödelt habe. Keine Apps, keine Versuchung.
Positives von der Corona-Front würde mir mein Mann melden, so hatten wir es ausgemacht. Es kam nichts. Häufiger sah ich ihn den Kopf schütteln oder hörte ihn leise brummeln, wenn er über den kleinen Bildschirm gebeugt auf dem Live-Ticker die sich überschlagenden Meldungen las. Nur am Freitag habe ich mich ins Geschehen eingeklinkt: Da hat Gesundheitsdirektor Schnegg – für einmal ist Nomen nicht Omen – unseren Kanton in einen Teil-Lockdown versenkt, während das sonst so schnelle Zürich noch immer über geeignete Schutzmassnahmen diskutiert.
Die dank Nachrichten-Abstinenz gewonnene Zeit – auch Radio und Fernsehen hatte ich mir verboten – habe ich genutzt: Der spannende Krimi ist fertig gelesen, die Hunderunden waren länger, und ich habe ein paar Briefe und Karten geschrieben. Zum Abschluss meiner selbstgewählten Nachrichten-Sperre mache ich eine Wanderung auf den Gäggersteg: Der neu erbaute Holzsteg führt hoch über das Sturmholz, das Lothar im Dezember 1999 am Gägger im Naturpark Gantrisch geschlagen hat. Unter Totholz, Wurzeltellern und gefällten Baumriesen siedelt sich eine neue Tier- und Pflanzenwelt an, vielfältiger und reicher als zuvor.
Ganz allein bin ich am frühen Sonntagmorgen unterwegs, nur der Hund wuselt um mich herum. Die Luft ist frisch und klar. Tief atme ich sie ein, ich fühle mich rundum gut. Der Ausblick auf Eiger, Mönch und Jungfrau und auf meine näheren Hausberge Chrummfadeflueh, Nünenen und Gantrisch ist wie ein Kalenderbild. Zuoberst am Gäggersteg steht eine Holzbank. Ich trinke meinen Tee und teile das Sandwich mit dem Hund. Das Holz erwärmt sich unter den ersten Sonnenstrahlen. Auf der Rücklehne steht eingebrannt der Satz: «Ds Schönschte wos git isch Dankbarkeit.» Dem Gedanken hänge ich beim Weiterwandern nach.
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