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Geschwister 12. April 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einer Pfingstrose, einem Rittersporn und einer Sonnenblume. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Am Ostermontag feierte mein Bruder seinen siebzigsten Geburtstag. Meine Schwester und ich sind mit unseren Partnern ins ehemalige Familienferienhäuschen im Wallis eingeladen. Nach dem Tod der Eltern hat er es übernommen und in ein helles, freundliches Chalet umgewandelt. Die schweren, dunklen Möbel sind daraus verschwunden, die bauernbemalten Bilder unserer Mutter und die alten Stiche verschiedener Schweizer Städte des Vaters längst von den Wänden genommen. Die Atmosphäre im Häuschen ist eine andere, obwohl unsere Eltern immer noch präsent sind. Nicht nur, weil wir eine Handvoll ihrer Asche unter einem Findling hinter dem Haus begraben haben: Wenn wir Geschwister zusammenkommen, reden wir immer auch von früher.

Meine Schwester hat unserem Bruder ein altes Foto in einen neuen Rahmen gesteckt. Es zeigt das kleine Bübchen in kurzen Hosen, einem gestrickten Jäcklein, weissen Wollsocken und Sandalen. Mit geradem Rücken sitzt es auf einem Zirkuspferdchen, den Blick stolz in die Kamera gerichtet. Es ist eine professionelle Aufnahme aus dem Jahr 1958, fotografiert von einem Zürcher Fotografen anlässlich einer Zirkus-Knie-Vorstellung. Wie unsere Eltern zu diesem Bild gekommen sind, wissen wir nicht. Aber wir erinnern uns, dass es jahrelang auf dem Buffet im Esszimmer stand, zwischen einem winzigen Schwan aus Murano-Glas und einem Porträt unserer Tante aus Schweden.  

Ohne mich mit meiner Schwester abgesprochen zu haben, gebe auch ich unserem Bruder ein Foto aus alten Zeiten: Es zeigt den Einjährigen in einem gestrickten kurzen Strampler auf einem Fell sitzend beim Fotografen… Und jetzt? Mein Mann zückt das Handy und fotografiert uns drei Geschwister: Ein älterer Mann und zwei alternde Frauen, die das Prosecco-Glas heben, miteinander auf die Zukunft anstossen und hoffen, dass diese noch lange dauert. Während wir den köstlichen Gitzibraten meiner Schwägerin geniessen, spüre ich, wie froh ich um meine Geschwister bin – seit meiner Kindheit und immer noch.

In unserer Kinder- und der wilden Jugendzeit hielten wir zu dritt unserem bürgerlich-traditionellen Elternhaus stand. Auf der einen Seite gab es Mama und Papa, auf der anderen Seite standen wir. Dann trennten sich unsere Wege, zuerst ins Ausland, später in unterschiedliche Ecken der Schweiz. Während Jahrzehnten sahen wir uns meist nur an Weihnachten und runden Geburtstagen. Doch wenn wir uns trafen, hatten wir es immer gut. Die Vertrautheit von anno dazumal war geblieben. Als die eigene Familienzeit vorbei war, sahen wir uns etwas häufiger. Doch erst mit dem Tod unserer Eltern rückten wir wieder zusammen – obwohl wir sehr verschieden sind und uns nicht einmal gleichen. 

«Geschwister sind unterschiedliche Blumen aus demselben Garten», habe ich einmal gelesen. Der Gedanke gefällt mir. Meine Schwester ist eine Pfingstrose, mein Bruder ein Rittersporn und ich als Älteste eine Sonnenblume. Wir passen zusammen, auch wenn wir an verschiedenen Standorten zu unterschiedlichen Zeiten blühen. Der gemeinsame Boden verbindet. 


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Beitrag vom 12.04.2023

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