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Lebenslang 23. Mai 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von alten Freundschaften und lebenslanger Verbundenheit.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ein enger Freund aus meiner Kinder- und Jugendzeit ist gestorben. Wir waren zusammen im katholischen Unterricht, feierten gemeinsam die Erstkommunion, machten in Blauring und Jungwacht und später in der Jugendgruppe mit. Wir gehörten zu einer eingeschworenen Truppe von Freundinnen und Freunden in einer protestantischen Umgebung. Erinnerungen werden wach: Singen am Lagerfeuer, Regen aufs Zeltdach während des Pfingstlagers im Jura, Autostopp nach Taizé, samstägliche «Feten» in der Jugendgruppe. Ich war die Erste, die eine eigene Wohnung hatte: Nächtelange Diskussionen in meiner «sturmfreien» Bude, Sangria- und Spaghetti-Gelage, Nacktbaden im nahen See …

Wir verloren uns aus den Augen, als ich für einige Jahre auf eine kleine Insel im Indischen Ozean auswanderte und dort mein neues Leben begann. Die «Clique» von damals blieb zusammen. An der Abdankung würde ich sie wiedersehen. Mein Herz klopfte auf dem Weg zur Kirche. Würde ich überhaupt noch jemanden kennen? Oder waren wir uns ganz und gar fremd geworden? Während des Gottesdienstes schaute ich mich verstohlen um – kein einziges bekanntes Gesicht! Schliesslich waren alle in den Pfarreisaal zu einem Apero eingeladen. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt hingehen wollte.

Bereits im Gang kamen ein paar ältere Frauen und Männer auf mich zu, einige umarmten mich. Jetzt erst erkannte ich in diesen Grossmütter- und Grossväter-Gesichtern die Züge der jungen Menschen von anno dazumal. Die Wiedersehensfreude war gross. Bis zuletzt blieben wir an einem Tisch zusammensitzen, ein halbes Dutzend Menschen, die sich einst so viel zu sagen gehabt hatten. Auch jetzt bekamen die Gespräche sofort wieder eine besondere Tiefe und Intensität. Kahle Köpfe, graue Haare und runde Bäuche hatten keine Bedeutung mehr. Ich fühlte mich wohl und aufgehoben und seltsam vertraut im Kreis dieser alt gewordenen ehemaligen Freundinnen und Freunde.

Wenige Tage später feierte ich im Kreis meiner Zeitlupe-Gspänli meine Pensionierung – fast fünf Monate nach meinem letzten Arbeitstag. Corona hatte damals keine Festivitäten zugelassen. Die Wiedersehensfreude verdrängte jede Wehmut, aus dem Abschieds- wurde ein fröhliches Maifest. Trotz der Hitze ging es an allen Tischecken lustig zu, es wurde viel gelacht und lebhaft diskutiert. Ich mag zwar pensioniert sein – aber sonst? Ich spürte rundum Zuneigung und Vertrautheit. Wie früher, als ich noch arbeitendes Team-Mitglied war. Ich fühlte eine Verbundenheit, die mir auch die Zukunft nicht nehmen kann.

Das stimmt mich zuversichtlich für nächste Woche: Ich besuche die Insel im Indischen Ozean, auf der ich meine wichtigsten Jahre zwischen zwanzig und dreissig verlebt habe. Ich werde einige Gräber zu besuchen haben. Vor allem aber werde ich meine paar einheimischen Freundinnen und Freunde wiedersehen. Ich bin gespannt: Es gibt Menschen, denen man Zeit und Distanz zum Trotz sein Leben lang zugehörig bleibt.

  • Haben Sie auch Freundinnen oder Freunde, mit denen Sie ein Leben lang verbunden geblieben sind? Erzählen Sie uns doch von ihnen. Oder teilen Sie die Kolumne mit anderen. Wir würden uns freuen.

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Beitrag vom 23.05.2022

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