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Licht im Dunkel 18. Dezember 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Kinderängsten und einem weisen König.

Usch Vollenwyder
© Jessica Prinz

Wir sitzen beim Nachtessen, als es an der Türe klopft. Wir schauen einander an: Wer kann das sein? Draussen ist es stockfinster – und eigentlich haben wir eine Klingel. Mein Mann öffnet die Tür, davor steht das kleine Mädchen, das wenige Häuser weiter wohnt. Seine Lippen zittern, krampfhaft versucht es, die Tränen zurückzuhalten: Mama sei doch nur gerade zum Nachbarn oben im Dorf gefahren, doch plötzlich habe es allein soooo grosse Angst bekommen. Während mein Mann die Mama zu erreichen versucht, ziehe ich das Mädchen tröstend an mich und spüre sein pochendes Herz. Wie gut ich es verstehe! Ich fühle mich zurückversetzt in die Zeit, als ich selber noch so klein war.

Ängste begleiteten mich durch mein ganzes frühes Kinderleben. Ich hatte Angst vor dem Keller, vor der Nacht, vor dem Weltuntergang oder wenn meine Eltern am Abend weggingen. Sie fiel über mich her wie ein wildes Tier, dem ich nur mit knapper Not entrinnen konnte. In Panik rannte ich dann die Kellertreppe wieder hoch, keuchend und um Atem ringend. Wenn ich in der Nacht aus einem Alptraum erwachte, setzte ich mich zitternd und frierend vor die Schlafzimmertür meiner Eltern und wartete ab, bis die Angst verebbte. Niemals hätte ich sie zu wecken gewagt. «Mach kei Zinggizängg», hätte meine robuste Mama mich in ihrem Walliserdialekt zurechtgewiesen.

Meine Ängste verschwanden, als ich eine rebellische Pubertierende wurde. Heute habe ich noch Angst um die Kinder, um unsere Kleine, um die Welt – aber kaum um mich. Geblieben ist mir das Unbehagen vor der Dunkelheit. Ich mag keine Fensterläden, keine Vorhänge, keine geschlossenen und keine finsteren Räume. Am liebsten wäre mir eine Strassenlampe, die mir ins Schlafzimmer scheint. Stattdessen bleibt über Nacht eine kleine Leuchtkugel angezündet, so dass es nie ganz finster ist. Unsere Fensterfront zur Strasse hin ist am Abend immer hell erleuchtet. Der Grund, warum das kleine Mädchen zu uns geflüchtet ist, sagt seine Mama später. Die anderen Hauseingänge seien so finster gewesen.

Vielleicht mag ich deshalb das philippinische Weihnachtsmärchen vom alten König mit seinen zwei Söhnen so besonders gern: Als der König alt wurde, wollte er einen der beiden zu seinem Nachfolger machen und gab jedem fünf Silberstücke. Für dieses Geld sollten sie bis zum Abend die Halle des Schlosses füllen – womit, war ihnen überlassen. Der ältere Sohn kam an einem Feld vorbei, wo die Arbeiter dabei waren, das Zuckerrohr zu ernten und in einer Mühle auszupressen. Er kaufte das ausgedroschene Zuckerrohr, füllte damit die Halle des Schlosses und sagte zu seinem Vater: «Ich habe deine Aufgabe erfüllt. Auf meinen Bruder brauchst du nicht mehr zu warten.» Der Vater antwortete: «Es ist noch nicht Abend. Ich werde warten.»

Bald darauf kam auch der jüngere Sohn. Er liess das ausgepresste Zuckerrohr aus der Halle zu entfernen, stellte eine Kerze in die Mitte und zündete sie an. Ihr Schein füllte die Halle bis in die letzte Ecke hinein. Der Vater sagte: «Du sollst mein Nachfolger sein. Du hast nicht einmal ein Silberstück gebraucht und hast die Halle mit Licht erfüllt. Du hast sie mit dem gefüllt, was die Menschen brauchen.»


  • Kennen Sie die Angst vor der Dunkelheit? Vor was haben Sie sich als Kind besonders gefürchtet? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 18.12.2023

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