Nostalgie 21. April 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Jugenderinnerungen und Weltverbesserern.
Von einer Singkollegin bekomme ich einen Link zugeschickt. Ich lese das Stichwort «Taizé» und klicke ihn an. Immer mehr Porträts von jungen Menschen aus aller Welt reihen sich aneinander: Carmen aus Chile, Samuel aus Frankreich, Boris aus Serbien, Michael aus Nigeria, Rana aus dem Libanon, Kimoko aus Japan, Esther aus der Schweiz. Miteinander singen sie zu Ostern eine dieser eingängigen Taizé-Melodien, die Herz und Seele berühren. Da im kleinen Dörfchen im Burgund, in dem seit Jahrzehnten junge Menschen aus aller Welt zusammenkommen, ebenfalls sämtliche Treffen abgesagt sind, singt und musiziert jede und jeder bei sich zu Hause. Dank moderner Technik entsteht in Zeiten von Corona so ein weltumspannender, virtueller Chor.
Mit einem Schlag bin ich in die Zeit vor fünfzig Jahren zurückversetzt, als ich immer wieder per Autostopp nach Taizé fuhr – den Rucksack und das kleine Zelt auf dem Rücken. Ich spüre eine unbestimmte Wehmut: Wie war ich doch damals jung, unbeschwert, voller Idealismus und überzeugt, sämtliche Geschicke der ganzen Welt zum Guten wenden zu können. In dieser ökumenischen Gemeinschaft der Brüder von Taizé kam ich mit Gleichgesinnten von überall her zusammen, auf der Suche nach nicht weniger als weltweiter Versöhnung und Solidarität. Tagsüber diskutierten wir, bis uns der Kopf wehtat. In der Nacht, an den vielen Lagerfeuern, stiegen unsere Lieder zum Himmel. Miteinander waren wir stark. Wir würden jedes Problem lösen und die Welt besser machen.
Während ich schreibe, fällt mein Blick auf unseren kleinen Vorgarten mit den beiden Fliederbüschen. Der eine steht voll in der Sonne, seine Blüten sind intensiv dunkelviolett und ihr Duft ist betörend. Der andere ist viele Jahre älter, fest verwurzelt und knorrig, mit mehr schützenden Blättern als prallen Blüten. Die beiden Sträucher erscheinen mir wie ein Sinnbild für die Jugend von einst und mein Alter von jetzt.
Ich denke an meine Freunde von anno dazumal und frage mich, was aus ihren Träumen geworden ist: Hat Fethi aus Tunesien am arabischen Frühling teilgenommen? Ist Milos aus Prag in die Politik eingestiegen? Hat Mike in Australien die Farm seines Vaters übernommen? Und ist Susanne aus Deutschland tatsächlich Ärztin irgendwo in Afrika geworden? Ich möchte wissen, wie es ihnen geht und wie sie – ebenfalls ein halbes Jahrhundert älter geworden – dem weltumspannenden Thema Corona gegenüberstehen.
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