Pensionierungs-Achterbahn 11. Oktober 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom neuen Terminkalender und dem Wechselbad zwischen Vorfreude und Wehmut.
Er begleitet mich seit Jahrzehnten durch das Jahr – vor allem durch das Berufsjahr: Der Lady Terminkalender. Jeweils im Herbst kaufe ich mir die nächstjährige Ausgabe und beklebe den Einband mit Ferienfotos. Auf der ersten Seite folgt der Plan mit den Redaktionsschlüssen, danach die Liste mit den Kontaktdaten meiner Redaktionsgspändli, schliesslich diejenige mit den Passwörtern (ich weiss, sollte man nicht). Meist reicht der Platz noch für ein Horoskop, das mir in der Regel Gesundheit, Geld und Glück in der Liebe verspricht. Dann erst beginnt der Januar.
Ich kaufe den Lady Terminkalender 2022 im A6-Format. Er ist nur noch halb so gross wie die Agenden der letzten zwanzig Jahre. Für meine wenigen Termine nächstes Jahr – bis jetzt noch keinen einzigen – ist er gross genug. Auf dem Umschlag ist gerade noch Platz für ein einziges Ferienfoto: Mann mit Hund. Auf die erste Seite klebe ich statt der Liste mit den Redaktionsschlüssen einen Ausschnitt aus dem Gedicht «Stufen» von Hermann Hesse: «Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe, bereit zum Abschied sein und Neubeginne. (…) Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.»
Ich werde pensioniert und stehe vor Abschied und Neubeginn. Eigentlich freue ich mich darauf. Ich spüre selber, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Veränderung ist. Doch obwohl ich seit langem darum weiss, wechseln nach wie vor Phasen der Vorfreude und Neugier ab mit Zeiten der Wehmut und Zweifel. Und manchmal fahren meine Gefühle an einem einzigen Tag Achterbahn.
An der wöchentlichen Redaktionssitzung fällt mir der Gedanke schwer, dass ich bald nicht mehr Teil des vertrauten Teams bin. Beim gemeinsamen Mittagessen stösst mein seit einigen Jahren pensionierter Kollege dazu – er macht keinen glücklichen Eindruck. Am Nachmittag, beim Gespräch mit der Chefredaktorin über meine letzten Aufgaben, spüre ich Tränen aufsteigen. Meine Schwester bestätigt beim abendlichen Apéro lakonisch: Pensioniert sein ist langweilig. Auf der Heimfahrt zurück ins Gürbetal mache ich zum Ausgleich eine Liste mit allen Positivpunkten, welche der neue Lebensabschnitt mit sich bringt. Sie fällt gar nicht so kurz aus.
Nach dem Nachtessen bleiben mein Mann und ich am Tisch sitzen und trinken noch ein Glas Wein. Seit er pensioniert ist, nennt er sich glücklich «Tagedieb und Taugenichts» – für mich weder erstrebenswert noch attraktiv. Wir wälzen meine Pensionierung hin und her. Einig sind wir uns, dass wir nicht plötzlich Synchronschwimmer werden und alles gemeinsam und gleich machen. Er will weiterhin Tagedieb und Taugenichts bleiben. Ich werde meinen Weg erst noch finden müssen.
- Wie erging es Ihnen mit der bevorstehenden Pensionierung? Erzählen Sie uns doch im Kommentarfeld etwas darüber. Wir sind gespannt!
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Auch ich liebe ihre Kolummnen sehr, DANKE, liebe Usch Vollenwyder, jene über das sogenannte Pensioniert-Sein ganz besonders, ich sitze mit ihnen im gleichen Boot, das Ungeahntes, Überraschendes, Neues und Wundervolles mit sich bringen mag.
In diesem Sinne grüsse ich sie ganz herzlich aus der Zentralschweiz,
Elina Frey
Ja, liebe Usch deine Schwester hat recht. Pensioniert sein, ist oft langweilig, das Freisein aber überragt!!!
Ich hoffe aber doch sehr, dass weitere «Uschs Notizen» erscheinen. Bitte!