Seniorennachmittag 21. November 2022
Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: Zum letzten Mal als Zeitlupe-Redaktorin unterwegs.
Zum allerletzten Mal nehme ich eine Einladung an einen Seniorennachmittag an. Die Verantwortliche hatte so lieb gefragt, dass ich nicht nein sagen konnte. Ich erzähle von meiner Arbeit als Zeitlupe-Redaktorin. Ich schildere unvergessliche Begegnungen – mit Polo Hofer, zum Beispiel, der mich bereits mit einigen «Cüpli» intus zum Interview in seiner Berner Stammbeiz «Piri» erwartete. Mit meinem Teenager-Idol Köbi Kuhn, der in unzähligen Varianten über meinem Bett gehangen hatte, und der schliesslich so ganz anders war als in meinen schwärmerischen Träumen von anno dazumal. Oder von Mathias Gnädinger: Ich hatte mich vor ihm gefürchtet, und er überraschte mich mit einem selbstgemachten Zwetschgenkuchen mit ganz viel Schlagrahm.
Vor mir im Kirchgemeindesaal sitzen rund zwei Dutzend Frauen und Männer an zwei langen Tischen – fast alle sind deutlich älter als ich. Fürs anschliessende Zvieri ist bereits aufgedeckt. Ich mag die erwartungsvollen Gesichter, die sich mir zuwenden. Dann beginne ich zu erzählen, wie die Zeitlupe entsteht und wer alles daran mitarbeitet. Ich erinnere mich an schöne, traurige, intensive, spannende und lustige Geschichten, und ob allem Reden realisiere ich einmal mehr, wie sehr ich meinen Beruf geliebt habe und wie gern ich davon erzähle. Jedes «letzte Mal» hat mit Abschied zu tun und tut ein bisschen weh. An diesem Nachmittag spüre ich es ganz deutlich.
Ich rede vom Altersbild, das uns bei der Zeitlupe wichtig ist: Dass mit der Lebensmitte der Höhepunkt noch lange nicht erreicht ist. Dass wir davon ausgehen, dass Wachstum und Entwicklung bis zuletzt möglich sind. Spontan zitiere ich das Gedicht von Rainer Maria Rilke: «Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.» Viele der anwesenden Frauen und der wenigen Männer nicken, als ich sage, dass sie Expertinnen und Experten in Sachen Lebenskompetenz sind. Ungeschoren wird niemand achtzig Jahre und mehr. Einschränkungen, Krankheit und Tod zwingen zum Abschiednehmen und Loslassen.
Ich erzähle von einem Gespräch mit der Historikerin Heidi Witzig, die gesagt hat: «Ich weiss schon, warum das Alter alten Menschen vorbehalten ist. Junge würden das gar nicht prästieren.» Ein Lachen geht durch die Reihen. Ich betone die grosse Leistung, die Menschen längst im Pensionsalter für ihr Umfeld und die Gesellschaft erbringen. Keine Hand bleibt unten, als ich frage, wer als Grosseltern, betreuende Angehörige oder Freiwilliger engagiert war oder immer noch ist. Ich möchte aufmunternde, wertschätzende, tröstliche Gedanken in die Runde werfen. Ich kann nicht anders. Ich liebe alte Menschen.
Ob ich dereinst an meine eigenen Worte denken werde? Wenn nicht, wünsche ich mir Menschen um mich, die mit mir einen wohlwollenden Blick in die Vergangenheit werfen. Und mir Mut für die verbleibende Zukunft machen.
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