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Alte Paare (2) 6. Mai 2024

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von den zwei Seiten einer Medaille.

Usch Vollenwyder
© Jessica Prinz

Gerade in Krisen – eine schwere Krankheit, Hilfsbedürftigkeit, manchmal auch die Pensionierung – müsse sich ein Paar oftmals neu finden und sich neu füreinander entscheiden, sagt der Dozent in der Vorlesung «Sinnhorizont bei kritischen Lebenssituationen» an der Uni Bern. Nicht nur angesichts solcher Herausforderungen gelte es, inmitten der vielen «Jeins» nochmals «Ja» zu sagen zum «gegenwärtigen Moment, der mir, meinem Partner, meiner Beziehung gegönnt ist» zitiert der Theologe. Dafür brauche es einen ambivalenzfreundlichen Blick – einen Blick, der um die Sonnen- und Schattenseiten in einer Beziehung weiss und auch sich selber und das Gegenüber mit seinen Widersprüchen und verschiedenen Seiten akzeptieren kann. 

Der Dozent verteilt ein Blatt mit einer Liste von negativ bewerteten Eigenschaften. In seiner Tätigkeit als Eheberater hat er immer wieder gehört, wie Paare sie einander vorwerfen: Du bist ja so emotional, chaotisch, oberflächlich, launisch, rechthaberisch, geizig, pedantisch, verschlossen … Wir bekommen die Aufgabe, zu diesen negativen Äusserungen nicht das Gegenteil, sondern die jeweils positive «Rückseite der Medaille» zu suchen – denn diese Kehrseite habe in verliebten und guten Zeiten die gegenseitige Faszination bewirkt: empathisch, kreativ, unbeschwert, vielseitig, bestimmt, sparsam, exakt, diskret … Während meine in der Seelsorge und Beratung tätigen Gspänli an schwierige Gesprächssituationen mit ihren Klientinnen und Klienten denken, mache ich mir ein Spiel daraus: Meine sture Nachbarin ist gut strukturiert, meine arbeitswütige Schwester beruflich engagiert, meine unstete Tochter abenteuerlustig. So betrachtet, sind sie mir viel näher.

Ein paar Tage später tappe ich voll in die Falle der «negativ konnotierten Eigenschaften», von denen der Dozent gesprochen hatte: Mein Mann und ich streiten über die Weltlage. Ich hebe einmal mehr zu meinem immer gleichen Sermon an, dass in den Medien hauptsächlich Militärexperten und -strategen zu Wort kämen und kaum noch jemand seine Stimme gegen Krieg und Aufrüstung und Waffenlieferungen erhebe. Dabei sei jeder Krieg völlig sinnlos und sei es immer gewesen, und die vielen Toten hüben wie drüben seien mit nichts zu rechtfertigen. Und überhaupt … Ich rede mich richtig in Rage, wohl auch, weil ich mich selber so hilflos fühle. Irgendwann verleidet meinem Mann mein lautes Gezeter: «Du bist naiv und sozialromantisch – und das mit 73 Jahren!»

Vor allem den zweiten Teil des Satzes hätte er besser nicht gesagt. Ich werfe ihm eine ganze Palette von Vorwürfen an den Kopf: «Und du bist ja so reaktionär und engstirnig und fantasielos.» Auch ich kann meine Schimpftirade noch steigern: «Früher warst du nie so!» Dann rausche ich davon. 

Und muss lachen, als mir die Vorlesung in den Sinn kommt. Mein Mann hatte sich anno dazumal wohl kaum meiner Naivität und Sozialromantik wegen in mich verliebt. Sondern weil er es mag, dass ich grundsätzlich das Gute sehe und den Menschen zugewandt bin. Ich wiederum liebe seine Bodenständigkeit, seine Zuverlässigkeit und sein Realitätssinn – diese Seite der Medaille ist in der Auseinandersetzung untergegangen. 

Vielleicht tut es alten Paaren ganz gut, sich hin und wieder zu überlegen, was einst den Zauber ihrer Beziehung ausmachte – um tatsächlich inmitten der vielen «Jeins», die das Leben mit sich bringt, noch einmal «Ja» zu sagen. 


  • Wissen Sie noch, was den Zauber Ihrer Beziehung in den Anfängen ausmachte? Und fällt es Ihnen heute leicht, noch einmal «Ja» zu Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin zu sagen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns ein paar Zeilen dazu schreiben oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 06.05.2024

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