Immer wieder neue Wege suchen

Sexualität ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis und spielt lebenslang eine bedeutende Rolle. Wenn sich der Körper, die Partnerschaft oder die Wohnsituation verändert, sind eine offene Kommunikation und neue Wege entscheidend, sagt Sexualpädagoge Reto Kneubühler*.

Wir Menschen sind sexuelle Wesen. Sexualität ist uns von Natur aus angeboren. Sie beginnt im Mutterleib, wenn der Fötus seinen Körper entdeckt und lernt, was ihm guttut. Und sie endet erst mit dem letzten Atemzug.

Dabei unterscheiden wir zwei Formen. Die eine ist die auf das «Ich» bezogene Sexualität der Lust. Im Zentrum steht das eigene Erleben: Was fühle ich, was möchte und benötige ich. Die andere Form ist die Sexualität des «Wir», bei der es um Zugehörigkeit geht und darum, was wir gemeinsam erleben. Eine erfüllende Sexualität setzt sich im besten Fall aus beiden Aspekten zusammen.

Sexualität ist jedoch weit mehr als Geschlechtsverkehr. Sie schliesst Nähe, Geborgenheit und Zuwendung ein und das Gefühl, angenommen zu sein. Einander halten, streicheln und küssen gehört ebenso dazu wie sich verstanden fühlen. Diese Bedürfnisse bleiben ein Leben lang bestehen, wobei je nach Lebensphase unterschiedliche Elemente wichtig sein können.

Ständige Veränderungen

Wie unser Körper verändert sich auch unsere Sexualität ständig. Von der Pubertät bis ins hohe Alter müssen wir uns deshalb immer wieder an neue Gegebenheiten anpassen. Um Partnerschaft und Sexualität lebendig zu erhalten, braucht es Zeit, Geduld, Offenheit und die Bereitschaft, neue Wege zu suchen. Denn Sexualität wird nicht einmal «erlernt» und dann ein Leben lang gleich praktiziert. Oft geschieht es jedoch, dass jemand die Sexualität gleich ganz aufgibt, wenn es im Bett nicht mehr so klappt wie früher.

Wenn die strengen Jahre in Beruf und Familie hinter einem liegen und die Wechseljahre – die beide Geschlechter durchlaufen – vorbei sind, fällt viel Druck weg und man hat wieder mehr Zeit zu zweit. Deshalb leben und erfahren Menschen über 65 ihre Sexualität oft so intensiv wie vorher nie. Allerdings überlegen sich in dieser Zeit auch viele, ob sie angesichts der Lebenserwartung wirklich nochmals so viele Jahre mit demselben Partner zusammenleben wollen. Scheidungen nach der Pensionierung und ein Neuanfang auch im höheren Alter kommen immer häufiger vor.

Wie eine Trennung verändern auch Krankheiten, Pflegebedürftigkeit, der Tod des Partners oder der Partnerin sowie der Umzug in ein Alters- oder Pflegeheim nicht nur unsere Lebenssituation, sondern auch unsere Sexualität. Bei einer Pflegebedürftigkeit beobachte ich oft, dass der Partner oder die Partnerin automatisch die Pflege übernimmt, ohne zu besprechen, ob dies für beide stimmt. Denn viele verstehen dies als ihre Pflicht und als Liebesdienst – oft bis zur physischen oder psychischen Erschöpfung. Paaren sollte bewusst sein, dass die veränderten Rollen auch ihre Intimität beeinflussen. Um diese Ebene der Beziehung nicht zu verlieren, rate ich, dass wenn immer möglich externe Fachkräfte wie die Spitex die intime Pflege übernehmen.

Sexualität im Heim

Während man in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus unabhängig wohnt, steht im Alters- und Pflegeheim plötzlich nur noch ein Zimmer zur Verfügung. Dies und der stets mögliche Zugang des Personals verändern das Erleben und Ausleben der sexuellen Bedürfnisse. Dem Pflegepersonal muss bewusst sein, dass das Zimmer das Zuhause der Bewohnerinnen und Bewohner ist und an der Tür deren Privat- und Intimsphäre beginnt.

Zügelt jemand in eine Institution, übernehmen meist auch Angehörige mehr Verantwortung und Entscheidungen. Plötzlich reden die erwachsenen Kinder in Bereichen wie der Sexualität mit, in denen die Eltern vorher autonom waren. Angehörigen fehlen jedoch oft das Wissen und das Verständnis, dass sexuelle Bedürfnisse auch im Alter bestehen. Und dass Menschen allen Alters diesbezüglich die gleichen Rechte haben. Weil Sexualität im Alter in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu ist, haben Jüngere oft Mühe, wenn ältere Menschen ihre Bedürfnisse genauso selbstverständlich ausleben wie sie selbst.

In Heimen getrauen sich Bewohnerinnen und Bewohnern oft nicht, ihre Bedürfnisse zu äussern. Und Aktivitäten, welche die grundlegenden Wünsche nach Berührungen, Zärtlichkeit und Sexualität abholen, werden kaum angeboten. Das Personal ist zudem oft zu wenig ausgebildet und sensibilisiert darauf, sexuelle Bedürfnisse frühzeitig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Wichtig wären deshalb Anlaufstellen, an die sich sowohl Bewohnende wie auch Angehörige und das Personal wenden können.

Wenn Grenzen überschritten werden

Wem Sexualität in jungen Jahren wichtig war, bei dem bleibt das meist auch im Alter so – und umgekehrt. Jedoch können Krankheiten und Medikamente wie zum Beispiel solche gegen Parkinson die sexuellen Bedürfnisse verstärken. Betroffene werden möglicherweise sehr aktiv, hemmungslos oder sogar übergriffig. Sexuelle Belästigungen können Pflegekräfte oder Mitbewohnende traumatisieren und sind Straftaten, die man keinesfalls dulden darf.

Solche Übergriffe seitens der Bewohnenden geschehen jedoch in der Regel nicht einfach so, sondern sind ein Prozess, der sich aufstaut. Daher sind Möglichkeiten wichtig, die eigenen Bedürfnisse in Würde auszuleben, ohne anderen zu schaden. Berührerinnen und Sexualassistenzen in Heimen können zum Beispiel erklären, wie man seinen eigenen Körper wieder neu entdeckt. Was nur schon umarmen und halten beim Gegenüber auslösen, ist nicht zu unterschätzen. Ein Heim in Dänemark hat auch die Erfahrung gemacht, dass Belästigungen signifikant zurückgingen, als sie erotische Filme von früher zeigten.

Für die Zukunft bin ich gespannt, wie die Heime mit den neuen Generationen umgehen, die auf sie zukommen. Menschen, die die Hippiezeit mit freier Liebe erlebt haben. Menschen, die offen zu ihrer sexuellen Orientierung stehen. Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen. Ich hoffe, man wird offener über das Thema sprechen, sodass Sexualität auch in Alters- und Pflegeheimen selbstbestimmt und würdevoll gelebt werden kann.

Der offene Umgang mit dem Thema Sexualität ist mir ein grosses Anliegen. Denn trotz Hemmungen interessieren sich meiner Erfahrung nach alle dafür, wenn entsprechende Angebote bestehen – egal ob alt oder jung. Jugendliche werden heute zwar früh aufgeklärt und sind über die Medien ständig vom Thema Sexualität umgeben. Doch auch sie haben viele Fragen zu Beziehungen und Intimität.

Reto Kneubühler, ehemals Polizist mit Schwerpunkt Gewaltprävention, sexuelle Übergriffe und Missbrauch, berät als Sexualpädagoge (ISP Zürich) Paare, Alters-, Pflege- und Spitex-Zentren. Bei Pro Senectute Kanton Schwyz leitet er Seminare zum Thema Sexualität im Alter. www.seima.ch, www.sz.prosenectute.ch

Beitrag vom 14.05.2024
* Reto Kneubühler

Sexualpädagoge (ISP Zürich), berät Paare, Alters- und Spitex-Zentren. Bei Pro Senectute Kanton Schwyz leitet er Seminare zum Thema Sexualität.

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