In ihren Blicken fand sie einen Lebenssinn
Ein Dokumentarfilm rollt die eindrückliche Biografie der Neuenburger Fotografin Claudia Andujar auf. Die knapp 94-Jährige fand im brasilianischen Dschungel ihre Berufung – und rettete damit Leben.
Text: Fabian Rottmeier
Immer dann, wenn Claudia Andujar beim Sprechen eine kurze Denkpause einfügt, folgt meist ein Satz, der bleibt: «Sie gab mir den Sinn des Lebens zurück.» Mit «sie» ist eine der ersten indigenen Frauen gemeint, die Andujar im brasilianischen Amazonasgebiet porträtiert hat. Sie gehört dem Volk der Yanomami an und ist bis heute mit der Neuenburgerin verbunden.
Claudia Andujar hatte damals, in den 1950ern, ein Studium der Humanwissenschaften im Gepäck, als sie einfach mal von New York aus loszog, um zu reisen. Nach einer Kindheit im rumänischen Transsilvanien und in der Schweiz war sie als junge Frau zu ihrem Onkel in die USA gezogen. Sie war neben ihm väterlicherseits die einzig Überlebende des Zweiten Weltkrieges. Alle anderen wurden von den Nazis umgebracht. Andujar war mit ihrer Mutter in die Schweiz geflüchtet.
Die Yanomami veränderten ihr Leben
Dieser dunkle Schatten liess die Überlebende nach einem Lebenssinn suchen, den sie in den Blicken der Yanomami fand. «Es sind die Blicke, die mich berühren», sagt sie im Film «Die Vision der Claudia Andujar» . Zwei Jahre lebte sie mit den Yanomami zusammen. Sie blieb in Brasilien, begann ein neues Leben (und lebt seit 1955 dort) und gab sich mit einem neuen Namen quasi selbst eine neue Identität: Aus Claudine Haas wurde Claudia Andujar, die Fotografin und spätere Aktivistin. Bald waren ihre Porträts und Reportagebilder aus dem Dschungel in so renommierten Magazinen wie «Life» oder «New York Magazine» zu sehen. Heute hängen einige ihrer Werke auch im Museum of Modern Art, dem weltberühmten MoMa. Ihr Fokus galt den Menschen und deren Emotionen. Wenn sie darüber erzählt, wie sie die Menschen liest und dass Vertrauen die Basis für jede gute Porträtaufnahme sei, hört man fasziniert zu.
Im Dialog mit der Hauptprotagonistin schält die mehrfach preisgekrönte Schweizer Dokumentarfilmerin Heidi Specogna den Antrieb der Westschweizerin heraus. Etwa im Schlüsselmoment, als sie davon erzählt, wie sie in den 1970ern begann, Gesundheitsakten der Yanomami zu erstellen. Der Bau einer Strasse brachte das indigene Volk erstmals mit der Aussenwelt in Kontakt. Mit leisen, tödlichen Folgen. Auf Krankheiten wie Tuberkulose oder Masern hatte das Immunsystem der Yanomami keine Antwort. Claudia Andujar fotografierte alle mit einem Nummernschild, weil sich die Yanomami nie Namen gaben, und initiierte erste Impfungen. Mit diesen Nummern kehrte sie sozusagen ihre Vergangenheit in etwas Hoffnungsvolles um: Während die Durchnummerierung der Nazis bei ihren jüdischen Verwandten den Tod bedeuteten, standen sie bei den Yanomami für Leben.
Das zweite Drittel des Films richtet sich dem Aktivismus und dem friedlichen Widerstand, den Claudia Andujar bei den Yanomami entfachen kann. Denn die nächsten Bedrohungen folgten: der Raubbau an ihrer Lebensgrundlage, dem Dschungel, sowie das Geschäft mit dem Gold, bei dem unzählige unschuldige Yanomami brutal ermordet wurden. Die skrupellosen Grabungen führen zudem bis heute dazu, dass viele Indigene mittlerweile Quecksilber in ihrem Blut aufweisen.
Ihre Arbeit geht weiter
Und dann, als Claudia Andujar einem deutschen TV-Reporter die Frage stellt, wie sie denn ihre Arbeit mit über 90 Jahren fortsetzen soll, folgt ein unerwarteter Bruch im Film. Regisseurin Specogna wendet sich bewusst von Andujar ab und zeigt, wie die drei mutige junge Frauen des Kollektivs Audiovisual Munduruku «Daje Kapap Eypi» die Arbeit der Neuenburger Pionierin fortführen – mit Videokameras und Drohnen. Sie haben realisiert, was schon Claudia Andujar klar wurde: Bilder sind Beweismittel – und eine Waffe, die nicht tötet, aber eine grosse Kraft entwickeln kann.
«Die Vision der Claudia Andujar», ab 20. Juni in ausgewählten Kinos. Weitere Infos und die Spielorte finden Sie hier.