43. Mers-el-Kébir Aus «Staatsmann im Sturm»
Um einen befürchteten Zugriff der Deutschen auf die französische Kriegsflotte zu verhindern, schickt Churchill einen starken Verband der Royal Navy in die Bucht von Oran, wo im Hafen Mers-el-Kébir einige der stärksten französischen Kriegsschiffe vor Anker liegen. Am 3. Juli stellt der britische Vizeadmiral Somerville dem französischen Admiral Gensoul ein Ultimatum: Er kann entweder mit seiner Flotte zu den Briten überlaufen oder seine Schiffe in einen britischen oder entfernten französischen Hafen, beispielsweise Martinique, führen, um dort abgerüstet zu werden, oder, dritte Variante, die eigenen Schiffe selbst versenken. Andernfalls werde die Royal Navy seine Flotte vernichten.
Anstatt mit den Engländern zu verhandeln, befiehlt Gensoul, dieser imbécile, wie de Gaulle ihn später nannte, seinen Schiffen auszubrechen. Nach Ablauf des Ultimatums um 16 Uhr 53 eröffnet die schwere britische Schiffsartillerie das Feuer. Das Schlachtschiff Bretagne explodiert und 997 Seeleute kommen im Inferno von brennendem Öl um. Die Panzerkreuzer Dunkerque und Provence und fünf Zerstörer werden schwer beschädigt. Der Angriff fordert gegen 1300 Todesopfer.
Am nächsten Tag berichtet Churchill dem Unterhaus über die Kriegshandlung gegen den ehemaligen Verbündeten. «Jock» Colville, sein Privatsekretär, ist zugegen:
Er erzählte die ganze Oran-Geschichte und das Haus hörte gebannt und staunend zu. Schnaufer der Überraschung waren zu hören, aber es war klar, dass die geführte Aktion einmütig gebilligt wurde. Als die Rede vorbei war, erhoben sich alle Abgeordneten von den Sitzen, schwenkten ihre Tagesordnungspapiere und jubelten laut zu. Winston verliess das Haus sichtbar bewegt.
Zu einem Kabinettskollegen bemerkte der Premier: «Dies ist für mich herzzerbrechend.» Er hat feuchte Augen.
In Vichy, wo Pétains Regierung eben gerade ihren Sitz eingerichtet hat, möchte der empörte Oberkommandierende der Marine, Admiral Darlan, den Engländern den Krieg erklären. Pétain beruhigt ihn – «eine Niederlage ist genug» – und begnügt sich mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Aussenminister Baudouin nennt die Aggression von Mers-el-Kébir «einen unauslöschlichen Fleck auf der englischen Ehre».
Die französische Presse, die im besetzten Paris und die im unbesetzten Frankreich, reagiert wütend. Allgemeiner Tenor: Indem er seinem ehemaligen Verbündeten in den Rücken fällt, hat der «perfide Albion» sein wahres Gesicht gezeigt. Zuerst haben die Engländer uns in einen ungewollten Krieg gezerrt, dann hauen sie ab und lassen uns allein. Der Schriftsteller François Mauriac, beileibe kein Deutschlandfreund, schreibt im Figaro:
Am Abend des Waffenstillstands glaubten wir nicht, dass noch etwas Schlimmeres geschehen könne, und dass für jeden von uns nichts bleibe, als zu trauern und für unser tödlich verletztes Volk zu beten. Und dann plötzlich diese Wendung Englands gegen uns, dieser Hinterhalt von Mers-el-Kébir und die geopferten Seeleute … M. Winston Churchill hat auf viele Jahre hin ein einmütiges Frankreich gegen England aufgebracht.
Die Versenkung der französischen Kriegsschiffe erschüttert auch viele Schweizer. Die Gazette de Lausanne nennt den Angriff die «schmerzhafteste Episode in den beklemmenden Monaten», welche Europa erlebe. In der Romandie sind die Sympathien fast vollständig auf der Seite der Franzosen. Eine Ausnahme ist der Freiburger René de Weck, Gesandter in Bukarest:
Ein Tag wird kommen, wo Churchill gerechtfertigt sein wird. Selbst die französischen Seeleute, deren Kameraden unter den Geschossen der Royal Navy gefallen sind, werden erkennen, dass er recht gehabt hat.
Am 5. Juli schreibt Goebbels:
Gestern ein stürmischer und bewegter Tag. Englische Flotte greift französische Flotte im Hafen von Oran an. Franzosen leisten Widerstand. Schwere Verluste … Die Wirkung in der Welt ist enorm. Wir dreschen drauflos. Abends spricht Churchill im Unterhaus. Mit einem Zynismus ohnegleichen legt er den ganzen Fall dar. Dementiert alle Friedensgerüchte. Hoffentlich bleibt er dabei. Sonst bekommen wir doch nie vor den Engländern Ruhe. Wieder haben sie deutsche Städte bombardiert. Mit schweren zivilen Opfern. Wir greifen dagegen England an. Wann aber soll das richtig losgehen? Unsere Presse ist kaum noch auf halber Linie zu halten. Und erst das Volk. Es dürstet direkt nach dem Krieg mit England.
Am Samstag, 6. Juli, kehrt der siegreiche Feldherr Hitler nach zwei Monaten Abwesenheit nach Berlin zurück. Goebbels:
Um 2 Uhr ist der Wilhelmsplatz ein einziges Menschenmeer. Alles wartet auf den Führer. Darüber liegt eine wunderbare Julisonne. Nach all den Strapazen und Mühen ist einem ganz feierlich zumute … Dann kommt der Führer an. Eine rasende Begeisterung erfüllt den Bahnhof. Der Führer ist sehr gerührt. Die Tränen kommen ihm in die Augen. Unser Führer! Fahrt durch die Strassen zu Kanzlei. Der Jubelsturm eines ganz glücklichen Volkes ist nicht zu beschreiben. Der Führer fährt nur über Blumen. Unser Volk, unser wunderbares Volk!
Statt am 8. Juli seine erwartete Reichstagrede zu halten, fährt Hitler nach dem Obersalzberg, um sich seine Worte noch einmal in Ruhe zu überlegen.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Am Morgen des 8. Juli ist Kelly im Bundeshaus bei Pilet. Der Bundespräsident erkundigt sich beim Gesandten, wie sich London nach dem Zusammenbruch Frankreichs die Handelsbeziehungen zur Schweiz vorstellt. Pilet erklärt dem Gesandten, dass er die «realistische» Haltung der Regierung Ihrer Majestät ehrlich schätze. Obschon der französische Botschafter ihm gesagt habe, dass das im (April unterzeichnete) War Trade Agreement «tot» sei, möchte die Schweiz am Übereinkommen mit dem Vereinigten Königreich festhalten.
Kelly gibt zu verstehen, dass sein Land sich in der Frage gewisser schweizerischer Exporte nach Deutschland «vernünftig» zeigen werde. Er wünscht aber auch, dass die Schweiz deutschen Forderungen bezüglich eines Exportembargos nach dem Vereinigten Königreich erfolgreich widerstehen werde. Pilet beruhigt ihn: Die Schweiz werde und müsse solchen Forderungen widerstehen. Kelly hofft, dass schweizerisch-britische Gespräche über den Transport von Gütern aus und nach Übersee in von der Schweiz gecharterten Schiffen zu einem befriedigenden Arrangement führen werden. Kelly in seiner Depesche:
Präsident schien den Wert des vorgeschlagenen Arrangements für Verminderung von Arbeitslosigkeit und Hilfe für die Aufrechterhaltung der Industrien auf wirtschaftlicher Basis voll zu schätzen.
Kelly trifft an jenem 8. Juni auch mit Burckhardt zusammen. In seiner Depesche fasst er den mündlichen Bericht des IKRK-Manns über seine Berlin-Reise zusammen:
Hitler sei zu seiner alten Idee zurückgekehrt und zögere vor einem Angriff auf England, weil er sich immer noch an der Hoffnung auf ein Arbeitsarrangement mit dem Britischen Empire klammere, wie er es in seinem kürzlichen Interview in Belgien mit dem amerikanischen Journalisten Carl von Wiegand angetönt habe. Er wolle eine Europäische Foederation und glaube, dass dies ohne britische Zusammenarbeit schwierig würde. Es gebe einige «lokale Forderungen» Italiens, die er gezwungen sei zu unterstützen, aber im Allgemeinen wolle er einen «weissen Frieden wie Königgrätz» (zwei der Gesprächspartner brauchten diese Formulierung).
(Der Frieden nach der epochalen Schlacht von Königgrätz 1866, in der Österreich besiegt wurde, sicherte Preussen die Vormachtstellung in Europa.)
Beiläufig erwähnt Burckhardt, er werde wegen des Flüchtlingsproblems bald nach Berlin zurückgehen. Damit gibt er Kelly zu verstehen, dass er bereit ist, allfällige britische Friedensbedingungen an zuständige deutsche Stellen weiterzuleiten. Burckhardt sieht sich wie zu Danziger Zeiten als ehrlicher Makler.
Kelly erklärt Burckhardt, dass «unser Misstrauen gegenüber Hitler, neben allem andern, ein fatales Hindernis zu jedem Frieden» sei. Als der Nuntius in Bern im Auftrag des Vatikans Friedensfühler ausstreckte, instruierte Churchill Kelly (am 28. Juni), «dass wir keine Erkundungen über Friedensbedingungen mit Hitler zu machen wünschen und dass es allen unseren Agenten strikte verboten ist, solche Vorschläge in Erwägung zu ziehen». Kelly glaubt aber zu wissen, dass in dem von Lord Halifax geleiteten Foreign Office Leute wie Unterstaatssekretär «Rab» Butler heimlich einen Ausgleichsfrieden mit Deutschland befürworten.
Als langjähriger Beamter im Foreign Office, nordirischer Katholik und Gatte einer Belgierin wünscht wohl auch Kelly einen Ausgleichsfrieden. In seinem Bericht nach London schlägt Kelly vor, dass man ihm bezüglich des künftigen Umgangs mit Burckhardt keine Instruktionen geben solle. Er will seine Handlungsfreiheit bewahren. Gleichzeitig deutet er aber an, dass er Burckhardt hinhalten werde. Völliges Schweigen britischerseits, schreibt er, «kann in keiner Weise unsere Kriegsanstrengungen schwächen, während dem es diejenigen unseres Feinds schwächen könnte, indem es bei ihm Zögern verursacht.»
- Hier gehts zum Nachwort.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Staatsmann im Sturm» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Staatsmann im Sturm»
Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv