48. Weisungen an den General Aus «Staatsmann im Sturm»

Am 12. Juli schickt Guisan Minger zuhanden des Bundesrats einen Brief, in dem er das von ihm in Aussicht genommene neue Verteidigungsdispositiv vorstellt. Guisan beschreibt, wie der Verlauf des Kriegs im Westen die militärische Lage ständig verändert hat und wie sie sich jetzt nach Abschluss des Waffenstillstands vom 25. Juni präsentiert. Guisan glaubt nicht, dass die Achsenmächte «solange sie nicht mit dem englischen Widerstand fertig geworden sind, ein Interesse daran haben, einen neuen Konflikt zu provozieren». Andererseits hätte Deutschland ein indiskutables Interesse an den direkten Verbindungswegen durch die Alpen, was es dazu bewegen könnte, auf die Schweiz «einen wirtschaftlichen, politischen und sogar militärischen Druck auszuüben, um freien Gebrauch dieser Verbindungswege zu erhalten»:

So könnten die deutschen Forderungen, früher oder später, derartig werden, dass sie mit unserer Unabhängigkeit und unserer nationalen Ehre unvereinbar wären. Die Schweiz wird nur dann der Gefahr eines direkten deutschen Angriffs entgehen können, wenn das deutsche Oberkommando in seinen Berechnungen zur Ansicht kommt, dass ein Krieg gegen uns lange und kostspielig sein würde, dass er unnötiger- und gefährlicherweise einen Kampfherd in der Mitte von Europa entlammen würde und die Ausführung seiner Pläne behindern würde.

Guisan bewegt sich sachte auf die von Wille, Labhart und Miescher bevorzugte Dissuasions- oder Abhaltungsstrategie zu. Allerdings geht er nicht so weit, dass er die bisherigen Stellungen an der Limmatlinie zugunsten eines totalen Rückzugs ins Réduit aufgibt. Guisan befiehlt eine Landesverteidigung «die sich gemäss einem neuen Prinzip, demjenigen einer Abstufung in die Tiefe organisieren wird». Wie bisher ist die erste Stufe der Grenzschutz. Die zweite Stufe ist diejenige «einer vorgeschobenen oder Deckungsstellung, welche die Einbruchsachsen ins Innere des Landes versperrt». Die dritte Stufe schliesslich besteht aus den Truppen der Alpenstellung oder des nationalen Réduits, die «ohne Geist des Rückzugs standhalten werden, mit für eine Maximaldauer bestimmten Vorräten».

Das Verteidigungssystem soll an allen Fronten aus «Panzerabwehrstützpunkten oder Widerstandsnestern» bestehen, deren «Kampfmethoden sich von jenen der Guerilla sowie den jüngsten Lehren des Kriegs inspirieren lassen». Die Verteilung der Truppen sieht der General wie folgt:

Der Umfang der in die Deckungsstellung kommandierten Truppen wird aus vier Divisionen und einer leichten Division aus dem Gesamtbestand unserer neun Divisionen und drei Gebirgsbrigaden bestehen. Dieses Verhältnis ist mir aus strategischen Erwägungen vorgegeben worden (notwendige Dichte, um die Deckungsstellung zu halten) und aus wirtschaftlichen (Unmöglichkeit, höhere Bestände im Alpengebiet des nationalen Réduits zu ernähren).

Guisans neues Dispositiv ist ein Kompromiss zwischen dem Plan Wille und dem Plan Prisi – weder Fisch noch Vogel, könnten unfreundliche Kritiker sagen. Immerhin hat er Zeit, das Dispositiv in die Tat umzusetzen. Weder er noch der Bundesrat erwarten, dass Hitler zu einem Angriff gegen die Schweiz schreiten wird, bevor er – in Guisans Worten – «mit den Engländern fertig geworden ist». Niemand glaubt, dass dies vor Oktober der Fall wird. Dann kommt der Winter, der sich für einen Feldzug gegen die Schweiz nicht eignet. Für die Umgruppierung der Armee und die Einrichtung des Réduits bleiben demnach gut acht Monate. Panik ist nicht am Platz.

Pilet studiert übers Wochenende sorgfältig den «geheimen» Brief des Generals. An der Sitzung vom Dienstag, 16. Juli, – Minger ist dienstlich entschuldigt – gibt er den Kollegen vom Inhalt des Briefs Kenntnis und macht dazu seine Bemerkungen. Nach Ende der Sitzung schreibt er dem abwesenden Minger, den die Sache von allen Bundesräten am meisten angeht, einen «persönlichen und vertraulichen» Brief:

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter BornHanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Mon cher,

Zurück hiermit der Brief des Oberbefehlshabers der Armee vom 12. Juli 1940, nummeriert 1 und geheim. Ich habe dem Bundesrat heute morgen davon Kenntnis gegeben und gesagt, dass die vier Punkte, die ich hervorgehoben habe, die folgenden sind:

1. Nicht zu viel Distanz zwischen dem Armeekommando und der Regierung. [Für das Armeekommando schlug Guisan eventuell Altdorf, für den Bundesrat eventuell Kandersteg vor.]

2. Nicht zu viele Truppen in der sogenannten Deckungsstellung, grosse Abstufung in die Tiefe und Ausbildung.

3. Notwendigkeit eines Ablösedienstes bezüglich des Bestands von drei Divisionen, zum Beispiel, um eine Rotation in der Zeit und im Raum zu haben.

4. Unerlässliche Vorbereitung der Truppen für den Ordnungsdienst (leichte Brigaden und gewisse Regimenter). Die beiden letzten Punkte sind die wichtigsten. Der Bundesrat hat sich einverstanden erklärt. Er insistiert auf die Notwendigkeit, die Ablösungen auf eine Weise zu organisieren, die für die Wirtschaft des Landes am nützlichsten ist, was bisher nicht der Fall war. M. Wetter hat ganz besonders den Wunsch ausgedrückt, dass der General darauf aufmerksam gemacht werde.

Pilet, Oberst a. D. und Leser der Revue militaire suisse (Jahresabo Fr. 12.50), beschäftigt sich gerne mit strategischen und operationellen Fragen. Die Anträge, die er in seinen vier Punkten dem General macht, finden die Zustimmung der vier anwesenden Bundesräte. Pilet kann damit rechnen, dass auch Minger mit ihm einig gehen wird.

Anders als im Mai befürchten Mitte Juli weder der Bundesrat noch der General eine bevorstehende Invasion der Schweiz – trotz der bedrohlichen Nähe motorisierter Wehrmachtsverbände.

In seinem Schreiben an den Bundesrat hatte Guisan beiläufig darauf hingewiesen, dass nach dem Zusammenbruch Frankreichs eine «automatische» Hilfeleistung durch den Feind unseres Feinds jetzt wegfällt. An dieser Stelle in Guisans Brief unterstrich Pilet das Wort automatiquement und fügte die Randbemerkung hinzu: «Nie war davon die Rede. Ganz im Gegenteil.» Im Brief an Minger erklärt Pilet, weshalb er diese Worte hingekritzelt hat:

Meine Randbemerkung auf der ersten Seite wird Dich nicht erstaunen. Es ist der Ausdruck «automatisch», der politisch gefährlich und in Wirklichkeit ungenau ist. Nie haben wir eine Hilfe ins Auge gefasst, die automatisch geleistet würde, wenn wir angegriffen wären. Im Gegenteil, wir haben uns unsere absolute Freiheit vorbehalten, ob wir oder ob wir nicht um fremde Hilfe ansuchen. Ein Dokument dieser Art, wenn es eines Tags in die Hand von Propagandisten fiele, könnte völlig falsche Rückschlüsse erlauben.

Pilet war immer der Meinung, dass eine französische Hilfe erst nach einem telefonischen Anruf des Bundespräsidenten in Paris erfolgen würde.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 17.12.2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

9. Eine Demoiselle aus Orbe

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 9: Eine Demoiselle aus Orbe.

Fortsetzungsroman

8. Führungsschule

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 8: Führungsschule.

Fortsetzungsroman

7. Die Bühne ruft

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 7: Die Bühne ruft.

Fortsetzungsroman

6. Pareto

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 6: Pareto.