56. Berlin ist verstimmt Aus «Staatsmann im Sturm»

Am Samstag, 3. August, findet eine Aussprache zwischen den Bundesräten Minger und Pilet und dem General statt. Es geht um Meinungsverschiedenheiten zwischen Pilet und der Armeeführung, über die sich der Bundespräsident bei den Kollegen beklagt hatte. Darauf beauftragte der Bundesrat Minger, mit Guisan zu reden. Der Militärminister hat es jetzt offenbar vorgezogen, Pilet beim Gespräch dabeizuhaben.

Mitten in die Unterredung der drei wird ein um 17 Uhr eingetroffenes Telegramm Frölichers aus Berlin hereingebracht:

Geheim. Berlin, 3. August 1940

Starke Misstimmung gegen General wegen kürzlichem Armeebefehl als gegen Deutschland gerichtet empfunden. Schritt zu gewärtigen. Angeblich in Frankreich Armeeleitung belastende Dokumente gefunden.

Wie die beiden Bundesräte und der General auf die recht alarmierende Meldung aus Berlin reagiert haben, ist nicht bekannt.

Am Sonntagabend, 4. August, – dem Tag nach der Besprechung mit dem General – beantwortet das Departement Pilet Frölichers Telegramm vom Vortag ebenfalls telegrafisch:

Der General konnte aus Anlass des 1. Augusts nicht auf eine Rede verzichten und musste den noch unter den Waffen stehenden Truppen erklären, welches der natürliche Zweck jeder Armee ist. Die in Berlin gegebene Interpretation entspricht keineswegs der Realität, die durch die bereits erfolgte starke Demobilisierung bereits eingetreten ist. Eine formelle Demarche würde in der Schweiz eine ärgerliche Reaktion auslösen und unsere ständigen Bemühungen um die Beziehungen zu verbessern entgegenwirken. Versuchen Sie sie [die Demarche] zu verhindern, indem sie in inoffiziellen Besprechungen diskret die nötigen Erklärungen geben. Sie können die baldige Demobilisierung von mehreren Elitedivisionen in Aussicht stellen.

Am 7. August verschwindet Pilet in die Ferien. Eine Woche später, am Dienstag, 13. August, um 16 Uhr 30 erscheint Köcher bei Pilets Stellvertreter Etter und übergibt diesem ein Memorandum, in dem sich die deutsche Regierung über die Rütli-Rede des Generals beschwert. Die Demarche Köchers kommt für Etter nicht überraschend. Schon am Freitag hatte Frölicher aus Berlin telegrafisch gewarnt:

Staatssekretär sagte gestern wegen Armeebefehls stehen Schritte bevor. Deutschland beanstande Aufrechterhaltung Mobilisation nicht, wohl aber Begründung, die General gebe. Als Freund der Schweiz rate er, Schweiz solle sich möglichst unauffällig verhalten.

Die deutsche Note zitiert wörtlich Stellen aus Guisans Armeebefehl. So den Satz:

«Solange in Europa Millionen von Bewaffneten stehen und solange bedeutende Kräfte jederzeit zum Angriff gegen uns schreiten können, hat die Armee auf ihrem Posten zu stehen.»

Diese «Kundgebung» des Generals wird im deutschen Memorandum als «erneute Aufhetzung der schweizerischen öffentlichen Meinung gegen Deutschland und Italien» gewertet. Die Note endet mit der kaum versteckten Drohung, dass die Achsenmächte gegenüber der Schweiz andere Saiten aufziehen können:

Wenn etwas die verbündeten Achsenmächte in ihrem Entschluss wankend machen könnte, ihre bisherige Haltung der Schweiz gegenüber fortzusetzen, so sind es so unzeitgemässe Demonstrationen, wie die des Herrn Generals. Die Deutsche Regierung muss in diesem Zusammenhang an die Schritte erinnern, durch die sie die Aufmerksamkeit des Bundesrates auf die Hetze gegen Deutschland und die hier ansässigen Reichsangehörigen gelenkt hat. Sie macht die Schweizerische Regierung auch in Zukunft für alle Ausschreitungen verantwortlich, die aus amtlichen Äusserungen des schweizerischen Armeeführers entstehen sollten.

In einem tags darauf zuhanden des Politischen Departements abgefassten Bericht beschreibt Etter ausführlich das Gespräch mit dem Gesandten. Etter sagte Köcher, die Rede Guisans sei in Berlin falsch interpretiert worden:

Nach meiner [Etters] Überzeugung sei dem General selbstverständlich jede Absicht ferngelegen, gegen die Achsenmächte zu hetzen. Sein Tagesbefehl sei auch vom Schweizer Volk nicht in diesem Sinne aufgefasst worden.

Der General, so Etter zu Köcher, habe bloss die Soldaten aufgefordert, ihre Pflicht zu erfüllen, komme, was wolle: «Er dachte einfach positiv an die Behauptung der Neutralität unseres Landes, und diese zu verteidigen sei ja gerade die Pflicht des Generals und der Armee.»

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Köcher versprach, diese Erklärung Etters nach Berlin weiterzugeben. Sie könne beruhigend wirken. Hingegen wies er Pilets Stellvertreter darauf hin, dass der General «von der jederzeitigen Möglichkeit eines Angriffs gesprochen» habe. Als Angreifer könnten unter den gegenwärtigen Umständen nur die Achsenmächte gemeint sein. Die Äusserungen Guisans müssten das Misstrauen gegen Deutschland und Italien schüren:

Die deutsche Kolonie in der Schweiz glaube denn auch, nach verschiedenen eingegangenen Mitteilungen, seit der Veröffentlichung des Tagesbefehls ein neues Aufflammen der Antipathien in der schweizerischen Bevölkerung gegen die Deutschen beobachtet zu haben.

Zur Sprache kamen auch die Truppenansammlungen in der Nähe der Schweizer Grenze. Köcher meinte, diese seien kein Anlass zu Beunruhigung: «Diese Truppen müssen ja doch irgendwo stehen.»

Etter verfasst in Zusammenarbeit mit dem juristischen Berater Logoz einen Antwortentwurf auf die deutsche und italienische Protestnote. Diesen unterbreitet er am Freitag, 23. August, dem ohne Pilet, Minger und Celio tagenden Bundesrat, der diskussionslos zustimmt.

Am Montag, 26. August, übermittelt der aus Baden zurückgekehrte Pilet Köcher mündlich die vom Bundesrat genehmigte Antwort. Köcher fasst sein Gespräch mit Pilet schriftlich zusammen:

Bundespräsident Pilet-Golaz gab heute auf die ihm am 13. August überreichte Note wegen der Rede des Generals Guisan folgende Erklärung ab:

Der Bundesrat habe von meinen Vorstellungen Kenntnis genommen und dabei auch zum Ausdruck gebracht, dass es sein Wunsch sei, mit der deutschen Regierung die besten Beziehungen zu unterhalten, wie ja auch unsere Note zum Ausdruck bringe, dass die deutsche Regierung Wert darauf lege, dass die guten Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern nicht getrübt würden. Der General habe vor dem Bundesrat erklärt, dass der Sinn, der in die Worte seiner Ansprache auf dem Rütli am 25. Juli und den darauf erlassenen Wachbefehl gelegt werde, in keiner Weise seiner Absicht entspreche. Es habe ihm ferngelegen, etwa Deutschland als den möglichen Angreifer hinzustellen oder etwa die Volksstimmung gegen Deutschland aufzuhetzen. Mit seiner Rede und dem Wachbefehl sei lediglich bezweckt gewesen, Offiziere und Mannschaften an die unbedingte Pflichterfüllung zu erinnern.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 11.02.2024

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