87. Bürde abgelegt Aus «Staatsmann im Sturm»
Christmas 1940. Es sind die ersten wirklichen Kriegsweihnachten im neuen Weltenringen. 1939 war drôle de guerre. Jetzt gibt es eine zweitägige, informelle und nicht abgesprochene Waffenruhe zwischen den verfeindeten Lagern. Man erinnert sich an 1914. Damals waren die Soldaten auf den Schlachtfeldern Flanderns an Weihnachten aus ihren Schützengräben gekrochen, um ihre Toten einzusammeln und zu begraben. Damals grüssten sich die verfeindeten Tommies und Jerries, warfen sich Scherzworte zu und schenkten sich Bier. Sie grillierten zusammen einmal ein Schwein. Sie spielten im Schlamm gegeneinander Fussball. 1940 stehen sich an keiner Front mehr deutsche und britische Infanteristen gegenüber. Es kommt zu keinen weihnachtlichen Verbrüderungsszenen.
Captain Leakey, der in der libyschen Wüste die italienische Garnison von Bardia belagert, beschreibt den Weihnachtstag «als gleich wie irgendein anderer, ausser dass jeder Mann eine eigene Büchse bully beef erhielt». General Wavell schickte den Soldaten seine Grüsse, aber mangels Transportmöglichkeiten weder turkeys noch Christmas puddings:
Wir vermissten die üblichen Luxuswaren und Feierlichkeiten, aber keiner klagte oder murrte. Es würde mehr als ein paar Kleinigkeiten brauchen, um die hohe Moral dieser kleinen Wüstentruppe zu erschüttern.
Werner Mock, ein damals 19-jähriger Wehrmachtssoldat, wird sich später an die Weihnachten – «das deutscheste und zugleich auch das rührseligste aller Feste der Deutschen» – erinnern, die er 1940 im Kreise der Kameraden in Frankreich feierte. Es war ein stimmungsvolles Fest, «die so schönen deutschen Weihnachtslieder wurden mit echter Ergriffenheit» gesungen. Der Hauptmann hielt eine kleine zu Herzen gehende Rede, wobei auch des Führers und des deutschen Volkes gedacht wurde:
Dann begann der fröhliche Teil des Abends mit viel Rotwein, Cognak und Punsch in verschiedener Art und Stärke. Der Erfolg davon war der, dass die Mehrheit ab Mitternacht hoffnungslos besoffen war, die meisten wirklich sternhagelvoll.
Wenn sie gekommen wären, hätten die Tommies leichtes Spiel gehabt. Es gab jedoch keine Tommies mehr in Frankreich:
Bevor aber alle unter den Tischen lagen, war der Oberleutnant Otto von den Weihnachtsliedern gänzlich abgekommen. Er hatte angefangen, heisse, sehr heisse Musik dem Klavier zu entlocken und nun jazzte und swingte er voller Lust auf dem Piano, so kannten wir den Herrn noch nicht. Da kannte die Begeisterung keine Grenzen, alle waren mit Freude dabei, bis der Kommandeur, dieser biedere Schwabe dem wilden Treiben ein Ende bereitete und meinte, nun sei es Zeit, damit aufzuhören. Das geschah dann auch, aber mit dem Saufen wurde noch nicht aufgehört, das ging weiter.
Und in der Schweiz? Man schnallt den Gürtel ein wenig enger, aber von den Opfern, die Pilet gerne erwähnt, ist nicht viel zu spüren. Die Zeitungen überquellen von Inseraten, die Warenhäuser, Delikatessenläden, Restaurants, Hotels und Wintersportorte aufgegeben haben. Es liegt viel Schnee, das Wetter ist schön, aber kalt. Man hat die Verdunkelung zwei Nächte lang aufgehoben. Wie im Frieden wird gefestet und gereist. Die SBB fahren über die Festtage mehr Sonderzüge als im Vorjahr, mehr sogar als 1938, und machen stolze Einnahmen.
Im trauten Heim wird nach Schweizerart der Heilige Abend begangen. Sanitätsoffizier Hans Richard von Fels hat Urlaub und feiert in St. Gallen mit Familie und Dienstmädchen. Er schreibt ins Tagebuch:
Wir haben gesungen und Beatrixli sang freudig mit auf meinem Arm, allerdings was ganz anderes. Dann haben wir den Baum bewundert und die Kinder gingen ans Päckliöffnen. Hansli bekam einen Laubsägekasten, Schweizergeschichte in Bildern, Offiziers- Schriftentasche, Globibuch, Kravatte, etc.; Vreny ein silbernes Tintenfass, Malbücher, Meccano, Pantoffeln, etc.; Beatrixli eine Puppenstube, Mundharmonika, Bärli, Armbändli, Schürzli; Peterli einen grossen Bär, Mundharmonika, Teller und Tasse, Wägeli mit Esel, Klötzliauto. Yvettli gab ich die goldene Puderdose mit 12 Brillanten und einen Füllfederhalter; sie bekam noch ein grünes Krügli. Ich bekam einen Ofen in den Topolino, die Handschuhe, Tagebuch 1941, Kravatte, Albrecht Dürers Radierungen, etc. Nach dem Nachtessen sassen wir noch lange mit den Kindern zusammen, und es herrschte so echte, glückliche Weihnachtsstimmung trotz Krieg und ungewisser Zukunft.
Noch steht ein Drittel der Armee im Aktivdienst. In Kirchen und Kantonnementen werden die Kerzen der Christbäume angezündet. Viele sind in Gedanken daheim bei den Lieben und manchem verschlägt es beim «Stille Nacht, heilige Nacht» die Stimme. Der General eilt von Soldatenfeier zu Soldatenfeier. Am 21. Dezember Weihnachten beim Nachrichtendienst, an der auch Massons Chauffeur teilnimmt. «Demokratische Armee ist kein leeres Wort», notiert Barbey. Am 22. Dezember gibt es eine Feier im Hauptquartier Schloss Gümligen:
Frischer Schnee auf den Wäldern des Dentenberg, auf den Dächern der Bauernhäuser und in den grossen Alleen. Unsere Familien sind um den sapin de Noël versammelt. Die Pfadfinderinnen des Dorfs singen. Im Kerzenlicht sehe ich mir die Gesichter unserer Männer an: Sekretäre, Wachen, Telefonisten, Köche, Messepersonal, Ordonnanzen, Chauffeure, Pferdepfleger, Hundeführer. Unterschiedliche Gesichter und Silhouetten, aber bereits eine gut zusammengeschweisste Equipe.
Am Heiligen Abend reist Guisan nach Zürich, um sich die Bombenschäden anzuschauen und die Verwundeten zu besuchen. Die am Bahnhof zusammengelaufene Menge gibt dem General den Weg frei. Er grüsst, die Leute bestaunen ihn mit Zuneigung und Respekt. Der Anblick der aufgerissenen Häuser zeigt ihnen besser als Bilder oder Filmleinwand das Unheil des Krieges, der jetzt ein Arbeiterquartier getroffen hat.
Weiter geht’s nach Basel zu den beschädigten Häusern in Binningen und dann über hohen Schnee zur Weihnachtsfeier der Territorialen in Oberkirch:
Die Kirche liegt auf einem kleinen Hügel, auf den wir in der Dämmerung langsam hinaufsteigen, die Gesichter auf dieses Wunder gerichtet: die beleuchteten Kirchenfenster. Zwanzig Grad [Fahrenheit]. Unter dem Schnee, der in grossen Flocken fällt, führen uns Soldaten, die Fackeln tragen, deren Atem uns das Gesicht heizt. Die Glocken halten in dem Moment ein, als der General das Tor durchschreitet und die Orgel setzt ein.
Barbey denkt an die nahe gelegene Grenze zum besetzten Elsass, «gleiches Land, gleiche Rasse, gleiche Kirchen und vielleicht die gleichen Gesänge»:
Ist es wahr, ist es möglich, dass in Europa, auf unserem Fetzen Erde, sich Bürgersoldaten versammeln, freie Männer, die über dem bedrohten Land wachen, sich um ihren General scharen, um Weihnachten zu feiern?
Beim Einsteigen in den Sonderzug, der den General nach Gümligen zurückführt, beobachtet Barbey den Chef. Er bewundert die Art, wie er sich «hält», aber er sorgt sich um ihn – Müdigkeit, Abnützung, die grenzenlose Anstrengung dieses Kriegs, der dauert.
Während der General feiert und sich feiern lässt, ist Pilet im Bundeshaus mit Arbeit überhäuft. Verhandlungen mit den Diplomaten Deutschlands, Englands und Frankreichs, Studium der Berichte der Gesandtschaften aus aller Welt, Verfassen von Glückwunsch- und Dankesbriefen zum Jahresende. Ein am Weihnachtstag von seinem geschätzten Mentor und lieben Freund Alt-Bundesrat Häberlin geschriebener Brief wird Pilet besonders gefreut haben:
Sie haben ein bewegtes, nervenfressendes Regierungs- und Arbeitsjahr hinter sich, Herr Bundespräsident! Ich habe während dieses Jahres oft als Freund Ihrer gedacht, ohne Ihnen das immer sagen zu können. Es war nicht leicht, unser Staatsschifflein durch die heranbrandenden Wellen zu steuern – und wird noch schwerer werden! Aufrichtigen Dank gebührt Ihnen allen, die sich dieser undankbaren Aufgabe unterziehen. Ich spreche ihn an meinem Ort von Herzen aus. Und Ihnen wünsche ich nun ganz besonders, dass Sie sich nunmehr, soweit dies irgend möglich ist, eine Erholungspause gönnen mögen mit Ihrer tapferen Mitkämpferin, der ich ebenfalls meine besten Grüsse und Wünsche entbieten möchte. Dies auch im Namen meiner lieben Frau, die leider nicht sofort selbst auf den sie so erfreuenden Brief von Mme Pilet antworten kann, da sie seit zwei Tagen wieder mit ihrem alten Bronchial-Nebel zu kämpfen hat, was unsere Weihnachtsfreude trübt.
An der letzten Bundesratssitzung 1940, am Samstag, 28. Dezember, wird noch vieles abgehakt, Stichworte: Der schweizerische Rhein-Rhone-Kanal, Strassenausbau, Schlichtungsgericht USA-Schweiz, Vergütung für Erfindungen, Wehropferzulage und Vermögensentwertung, Wirtschaftsverhandlungen mit Ungarn, Subventionen für die Stickerei-Industrie, Verdunkelung an der Grenze.
Es geht um Straf- und Zensurfälle sowie um Beförderungen und Ernennungen: Major Bracher, ein Vertrauensmann Guisans, wird Sekretär des Militärdepartements, Nationalrat Armin Meili, der Vater der Landi, Direktor der Verkehrszentrale. Zu reden gibt die Frage der Öffnungszeiten für die Bahnhofbuffets, die bisher anders als andere Wirtschaften bis 23 Uhr offenbleiben durften. Auf Antrag Stampflis und unter Beipflichtung Pilets müssen auch diese um 22 Uhr bei Verdunkelungsbeginn schliessen. Am Schluss der Sitzung verabschiedet der Bundespräsident mit warmen Worten die scheidenden Kollegen Minger und Baumann. Die Sitzung ist harmonisch verlaufen wie fast immer. Wird es mit den Neuen von Steiger und Kobelt ebenso gut gehen?
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Nach der Sitzung spaziert man zum Von-Wattenwyl-Haus an der Junkerngasse, wo im 1. Stock das traditionelle Jahresendessen wartet. Mit von der Partie sind auch der General und Mme Guisan. Pilet ist jetzt Hausherr im stilvollen barocken Von-Wattenwyl-Haus. Er wird künftig bloss von seiner Parterrewohnung die Treppe hinaufsteigen müssen, um im grossen Sitzungssaal an bundesrätlichen Besprechungen und Essen teilzunehmen. Die Bigelows sind ausgezogen. Aber die von Hausamann, Waibel und Lindt angefachte «Affäre» um die «amerikanische Note» mottet weiter.
Dem Tagebuch des wegen seiner Nichtwahl in den Bundesrat verbitterten Feldmann ist zu entnehmen, dass in der Deutschschweiz das Misstrauen gegen Pilet anhält. Am 26. Dezember versieht ihn Lindt mit neuen Informationen über Pilet:
Oeri will zurzeit auf die USA-Angelegenheit Pilet nicht eintreten, da er als sicher annimmt, dass Pilet auf das Frühjahr das Eidgenössische Politische Departement verlassen werde. Lindt und ich vereinbaren angesichts dieser Sachlage, Prof. William Rappard in Genf, der Lindt persönlich gut bekannt ist, zu informieren.
Das neue Jahr steht vor der Tür. Die Schweiz singt den von Teddy Stauffer auf Telefunken aufgenommenen Ski-Jodel: Löhnt de Tüüfel fahre und d’Mäiteli la si / Äs git käi Larifare, wo Schnee isch und wo Schi. Schi heil!» Ob Krieg oder nicht, man hat das Recht auf Singen, Tanzen und Sport. Auf der Ka-We-De in Bern drängen sich die Schlittschuhläufer. Die Wintersportorte veranstalten Wettbewerbe jeder Art, Skispringen,Slaloms, Abfahrten. Die Skirennen in Mürren und Wengen gewinnt je ein von Allmen, in Zermatt ein Julen. In Gstaad versuchen sich die Gäste am Eggli in einer «Abfahrt ohne umzufallen».
Auf der Pontaise verliert Pilets Lausanne-Sports im letzten Meisterschaftsspiel der Nationalliga A gegen Grasshoppers 1:0. Bickel dribbelt, flankt vom Flügel, Amado übernimmt volley und setzt einen rasanten Flachschuss in die linke Ecke, unhaltbar für Ballabio. Jeder Bub kannte den rundlichen Ballkünstler Fredy Bickel, den instinktsicheren Torjäger «Lajo» Amado und den «schwarzen Panther» Erwin Ballabio – drei heute vergessene Legenden des Schweizer Fussballs.
Auch die Handballsektion des Grasshopper Clubs ruht über die Feiertage nicht. GC, das keine Juden in den Verein aufnimmt, spielt in Berlin gegen den brandenburgischen Meister Elektra. Zu seinem Leidwesen erfährt Frölicher dies zu spät, so dass er nichts für die Spieler «tun kann». Er berichtet Pilet, «deutschen Zeitungsberichten zufolge» hätten die Schweizer einen «guten Eindruck» gemacht. Schade, dass er dies zwecks Pflege gutnachbarlicher Sportbeziehungen propagandistisch nicht auswerten konnte:
Ich möchte diesen Einzelfall zum Anlass nehmen, um Ihnen, Herr Bundesrat, einige Gedanken mehr allgemeiner Art über die Pflege der Sportbeziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz zu unterbreiten. Dabei setze ich voraus, dass Sie mit mir in der Auffassung einig gehen, der Sport könne, richtig geleitet, ein zweckdienliches Mittel sein, um die stimmungsmässige Spannung, die zwischen den beiden Ländern herrscht, zu lindern.
Vermutlich geht hier Pilet, wie der gesamte Bundesrat und der General, mit Frölicher einig. An einer Sitzung hat die Regierung kürzlich beschlossen, der offiziellen Schweizer Beteiligung an einer Pferdesportveranstaltung in Meran und an einem Militärpatrouillenlauf in Cortina zuzustimmen.
Zum Jahresende bringen die Zeitungen ihre Rückblicke und Ausblicke. Die Gazette stellt dem ehrwürdigen, 75-jährigen Professor Edmond Rossier dafür die ganze Frontseite und Seite 2 zur Verfügung. «Wohin gehen wir?», fragt Rossier:
England erklärt, dass es kämpfen wird, bis die Diktaturen niedergestreckt sind und die Freiheit der Völker wiederhergestellt ist. Man kann seinen schönen Mut nur bewundern: aber gegenwärtig ist es schwierig, nachzuvollziehen, wie – bedroht und umzingelt – es zu einem völligen Sieg kommen kann. Alles was man voraussehen kann ist ein Abnützungskrieg, der den Gegner dazu bringt, einen gerechten Frieden zu schliessen. Inzwischen leidet der Kontinent tausend Schmerzen.
Hoffnung in diesem «grässlichen Krieg, der die Resten der Zivilisation zu ruinieren droht», sieht Rossier im «Schauspiel der Geschichte»:
Die Menschheit hat ähnliche, noch schmerzhaftere Krisen durchgemacht. Immer ist der Wiederaufbau gekommen, haben sich die von Energie inspirierten Nationen wieder aufgerichtet. Es wird auch dieses Mal so sein. Aber wann? An einem Tag, der für jeden leuchtet, oder im Nebel der Zukunft. Hoffen wir trotzdem.
Im Hexenkessel von Bukarest kann René de Weck nicht wie Rossier vom sichern Lausanner Port gemächlich raten. Wütend schreibt er: «Es sind die Deutschen, die mich gelehrt haben, sie zu hassen». Er hasst sie mit Leib und Seele. Trotzdem bleibt der Freiburger Diplomat und Literat zuversichtlich:
Die Griechen sind in Albanien, die Engländer haben auf dem europäischen Kontinent den Brückenkopf wiedergefunden, den sie im Juni verloren haben. In der Wüste von Libyen belagern sie Bardia. Auf der anderen Seite des Atlantiks erhebt Roosevelt seine Stimme: Die in Berlin und die in Rom müssen verstehen, dass diese Stimme die Zerstörung ihrer Hoffnungen ankündigt; es ist ein Todesurteil.
Pilet kann sich als Bundesrat solche Worte nicht erlauben. Selbst mag er die Deutschen auch nicht besonders. Seine in der Gymnasialzeit gefasste negative Meinung änderte er während seiner Studienmonate in Leipzig nicht. Doch schon damals bemühte er sich, objektiv zu sein: Die «germains» haben ihre Qualitäten. Sie sind fleissig, tüchtig, diszipliniert, entschlossen.
Der Silvester, Pilets Geburtstag, ist für den Waadtländer immer ein besonderer Tag gewesen. Er schaut gerne zurück, er schreibt auch gerne auf Neujahr Karten und Briefgrüsse. Wenn er Zeit hat … Am 31. Dezember 1940 fehlt ihm die Zeit dafür. Etter hat vorgeschlagen, dass Pilet als abtretender Bundespräsident und Wetter als sein Nachfolger am Neujahrstag am Radio zur Mittagszeit eine kurze Ansprache halten. So setzt Pilet an seinem 51. Geburtstag wieder einmal eine Rede auf. «Suisses, Suissesses, Enfants de mon pays» beginnt er. Er sagt, er habe sein Amt als Bundespräsident nicht mit leichtem Herzen und nicht mit unbeschwerter Seele angetreten. Auch er habe sich gefragt: «Wird der Krieg unser Vaterland verschonen?»:
Es war mein heissester, tiefster, heiligster und geheimster Wunsch, es davor zu schützen und es bis zum Ende intakt, unabhängig und frei zu bewahren. In seiner grossen Güte hat Gott geruht, mich anzuhören.
Pilet erinnert sich an seine Rede vom 25. Juni und die teils kritischen Reaktionen darauf. Er sucht diesmal Zweideutigkeiten zu vermeiden, aber er steht zu seinen damaligen Worten. Pilet meint, man habe die «unablässig neuen und ständig wachsenden Schwierigkeiten der letzten zwölf Monate nicht immer in ihrer harten Realität» erkannt. Der Krieg 1914–1918 habe die Sicht der Dinge verfälscht:
Daher der Widerhall auf gewisse Feststellungen, die vor sechs Monaten gewagt schienen, aber die sich seither bestätigt haben. Man soll freilich die Wahrheit, selbst die rüde, nicht fürchten. Es ist die Wahrheit, welche die Tugenden schmiedet, die Tugenden der starken Völker, der stolzen Völker, der Völker, die entschlossen sind, zu leben.
Mit den «gewissen Feststellungen», die sich «seither bestätigt haben», bezieht er sich auf seine Rede vom 25. Juni. Der Rechthaber hat Recht behalten, auch wenn ihm immer noch viele gerade wegen seiner angeblichen «Anpasserrede» misstrauen.
Es folgt Pilets übliche Liste der erwünschten Tugenden: Opferwille, Solidaritätsgeist, Gemeinschaftsgefühl, «Disziplin schliesslich, ohne die der Rest nichts ist». Mut, Wille, Ruhe und Vertrauen sind gefragt:
Vertrauen der einen in die andern, Vertrauen der Behörden ins Volk, Vertrauen des Volks in die Behörden, ein spontanes und stummes Vertrauen, weil es tief und ehrlich ist, Vertrauen, das den schädlichen Staub der Hintergedanken, der Verdächtigungen, der falschen Gerüchte vertreibt. Ah, die falschen Gerüchte, welchen Schaden haben sie angerichtet und welchen Schaden könnten sie noch anrichten? Wir haben euch versprochen, die Wahrheit zu sagen, wir haben sie gesagt. Der Bundesrat wird fortfahren, sie zu verkünden.
Wenn er von den Verdächtigungen und, ach, so schädlichen «falschen Gerüchten» spricht, denkt er an das Getuschel über seinen angeblichen Wunsch, den Deutschen willfährig zu sein oder gar vor ihnen zu kapitulieren. Wer solches behauptet, hat Pilet einmal gesagt, dem werde er es nie verzeihen.
Hören ihm seine Gegner überhaupt zu? Hat man am Neujahrstag nichts Besseres zu tun? Feldmann, der Unermüdliche, hat hingehört. Er spöttelt:
Pilet hat mit einer der bei ihm neuerdings üblichen Stöhnreden als Bundespräsident vom Schweizervolk Abschied genommen.
Stöhnrede? Tatsächlich fällt es Pilet schwer, den Predigerton zu lassen:
Mit Erleichterung lege ich damit die höchste Bürde nieder. Mit einer aus Schätzung und Freundschaft entstandenen Sicherheit sehe ich zu, wie sie vom neuen Präsidenten übernommen wird. Möge der göttliche Schutz sich über ihn und das Land ausbreiten.
Er endet mit den Anfangsworten des Lobgesangs des Simeon aus dem Lukas-Evangelium: «Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden.» Auf Latein, wie es sich gehört:
Et nunc dimittis servum tuum, Domine.
- Hier gehts zum Nachwort.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Staatsmann im Sturm» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Staatsmann im Sturm»
Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
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