Des Kaisers neue Moden Joseph II. von Habsburg-Ungarn
Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.
Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier
Der erste Monarch, von dem dieses Buch erzählt, benimmt sich nicht wie ein König. Oder wie man es von einem König erwarten würde. Er ist sogar Kaiser. Deutsch-römischer Kaiser. Doch auf Bildern trägt er nie eine Krone, nie einen hermelingeschmückten Seidenmantel, nie pelzbesetzte Stiefel oder ein Zepter mit Edelsteinen.
Stattdessen lässt er sich stets in einer Uniform abbilden. Auf seinen vielen Reisen trägt er einen einfachen, grauen Hut, wie ihn Handelsleute üblicherweise aufhatten. Zudem fährt er in einer gebrauchten Kutsche, die sich nicht von anderen unterscheidet. Ausserdem ist er nicht wie ein Kaiser im Märchen gütig und gerecht, er ist geizig und gereizt, missmutig und mürrisch. Er benimmt sich arrogant, überheblich und besserwisserisch. Er scheint von Ehrgeiz zerfressen. Er gilt als Ekel. Er ist ein Sadist.
Ein Zeitgenosse, dem man lieber nicht begegnet. Einer, der sich alles erlaubt, weil er gekrönt ist. Einer, der in den Bordellen Wiens ein- und ausgeht. Er unterläuft alle Erwartungen, was sich insbesondere auf seiner Reise durch die Schweiz zeigt. Und was die Schweizer von damals fast verzweifeln lässt. Oder wie es ein Zeitzeuge formuliert: «Er besitzt tausend hervorragende Eigenschaften, die für einen Herrscher ungeeignet sind.»
Und Goethe, ebenfalls ein Zeitgenosse, sagt über ihn: «Sein Kopf steht gut. Irr ich nicht sehr, so fehlt’s ihm am Herzen.» Die Rede ist von Erzherzog Joseph von österreich-Lothringen, seit 1765 deutsch-römischer Kaiser Joseph II. und Mitregent über das Erzherzogtum Österreich, das Königreich Ungarn, die österreichische Niederlande und Böhmen.
Gut zu wissen
- Wer: Joseph II. von Habsburg-Ungarn, deutschrömischer Kaiser. Geboren als Erbprinz von Österreich-Lothringen.
- Wann: Geboren am 13. März 1741 in Wien, gestorben am 20. Februar 1790, ebenfalls in Wien.
- Was: Er war von 1765 bis 1780 Mitregent mit seiner Mutter Maria Theresia und deutsch-römischer Kaiser, von 1780 bis 1790 allein regierender Kaiser.
- Wie: Er gab sich als aufgeklärter Absolutist und lancierte viele, zum Teil überstürzte Reformen, aber auch eine neuartige rationale Bürokratie.
- Bezug zur Schweiz: Kaiser Joseph II. bereiste im Juli 1777 während 14 Tagen die Schweiz und sorgte dabei mit seinem unberechenbaren Verhalten für Unruhe und Unsicherheit.
Springen wir in das Jahr 1777. Joseph II. ist 36 Jahre alt und bereits zwei Mal verwitwet, er flieht vor dem Zugriff seiner dominanten Mutter Maria Theresia. Zusammen mit ihr, der Mitregentin, herrscht er über das grosse Reich von der Nordsee bis ins Gebiet der heutigen Ukraine. Formell regieren sie miteinander die Habsburger Monarchie, aber in der Realität arbeiten sie gegeneinander. Um seiner Mutter nicht in die Quere zu kommen, meidet er den Herrschaftsmittelpunkt Wien und reist stattdessen fast ohne Unterbruch quer durch Europa. Dabei begegnet er liebend gern den Geistesgrössen seiner Zeit.
So auch in diesem Jahr. Der deutsch-römische Kaiser entflieht ein weiteres Mal dem Hofstaat in Wien, diesmal geht es nach Frankreich. Um kein Aufsehen zu erregen und den verhassten Staatsempfängen zu entkommen, reist er unter dem falschen Namen «Graf von Falkenstein.» Dank dieses Inkognitos ist er von höfischem Zeremoniell befreit und muss keine Pflichten erfüllen. Auf dem Rückweg von Frankreich kommt er in die alte Eidgenossenschaft.
Jetzt wird es spannend: Denn die 14 Tage in der Schweiz zwischen dem 13. und 27. Juli 1777 versetzen die eidgenössische Oberschicht in helle Aufregung. Es ist die Zeit der Mutmassungen und Gerüchte: Die Aristokraten der alten Eidgenossenschaft sind nervös. Will der junge Habsburger ehemals habsburgische Gebiete wie den Thurgau, Aargau oder das Tessin zurückfordern? Oder militärisch zurückerobern? Ist die Reise eine militärische Inspektion für die Beschaffenheit der Landschaft? Oder für eine Begutachtung der eidgenössischen Armee?
Warum nur verweigert sich der Monarch den althergebrachten Ritualen so konsequent? Joseph II. brüskiert mit seinem Verhalten ständig und ist höchst unberechenbar. Für das konservative und etwas verfettete Patriziat der alten Eidgenossenschaft muss der junge Kaiser verunsichernd wirken. Denn er interessiert sich mehr für Neues aus Wissenschaft und Technik als für die Sicherung alter Rituale und Macht, die Ideen der Aufklärung sind ihm näher als das Wirken seiner Ahnen.
Der Nichtbesuch als Sensation
Weil der Monarch von Paris nach Genf reist, liegt ein Besuch beim aufgeklärten Philosophen Voltaire nahe. Voltaire ist damals eine Berühmtheit des frankofonen Theaters und der Philosophie und lebt auf den Schlössern Ferney und Tourney in der Nähe von Genf. Aber ein Besuch bei Voltaire, Frankreichs Staatsfeind, würde Frankreichs Krone gegen Joseph II. aufbringen; immerhin sitzt seine Lieblingsschwester Marie Antoinette dort auf dem Thron. Deshalb, und auch weil Voltaire Josephs Wunsch nach Anonymität missachtet, verzichtet der österreichische Kaiser kurzfristig auf die problembehaftete Visite bei Voltaire.
Die Absage verwirrt zusätzlich, und der Nichtbesuch mausert sich schnell zur Sensation. Für einmal bestärkt die Launenhaftigkeit des Monarchen die herrschende Klasse, der Voltaire suspekt ist. Joseph II. besucht stattdessen die Stadt Genf und notiert in sein Tagebuch: «Die Stadt ist schlecht, hat enge Gassen und sind selbe auch zimlich schmuzig.» Er täuscht auch hier mehrfach die Öffentlichkeit: So reserviert er im Hotel des Balances 17 Zimmer, obwohl er ausserhalb der Stadt in Sécheron abzusteigen gedenkt. Als er mit der Droschke in die Stadt fährt, schlägt er wiederholt den falschen Weg ein, um die Schaulustigen in die Irre zu führen. So betritt er von vorne ein Gebäude, um es gleich wieder durch die Hintertüre zu verlassen.
Schliesslich lässt er sich das Kabinett von Horace Bénédict de Saussure zeigen, dem Pionier der Alpenforschung, und diskutiert mit dem Wissenschafter physikalische und elektrische Probleme. Das fesselt den Kaiser viel mehr als langweilige Empfänge mit Adeligen. Dass de Saussure mit seiner Bildungsreform hochkant gescheitert ist, kümmert den Kaiser ebenso wenig wie die beleidigten Gesichter der Genfer Haute volée, die so sehr auf einen kaiserlichen Besuch gehofft hatte.
Dafür lässt sich der Kaiser durch die Bildersammlung des Künstlers Jean-Etienne Liotard führen. Eigentlich interessiert sich Joseph II. mehr für die Technik als die Kunst, doch dieser Liotard ist damals in ganz Europa ein gefragter Maler. Zudem hat er den österreichischen Kaiser auch schon mal gemalt, nämlich 1762. Wahrscheinlich gefällt dem vernunftgesteuerten Monarchen die Nüchternheit von Liotards Malerei: Der malt nämlich eher wie ein wissenschaftlicher Zeichner als wie ein hoch emotionaler Künstler.
Des Kaisers Emotionen hingegen kommen nur wegen etwas hoch: Es ärgert ihn ungemein, dass er ständig von einer sensationslüsternen Menschenmenge umgeben ist, die ihm auf Schritt und Tritt folgt. Da fallen schon mal unschöne Worte, die nicht zum klassischen Bild eines Kaisers passen. Doch dem entspricht Joseph II. ohnehin nicht.
Überraschungen am Laufmeter
Um das lauernde Publikum zu umgehen, reist der Kaiser morgens bereits um fünf Uhr weiter und trifft in Lausanne Samuel Auguste Tissot. Dieser hat einen Weltbesteller gelandet, als er eine wissenschaftliche Schrift gegen die Selbstbefriedigung publizierte. Doch Joseph II. kommt aus einem anderen Grund: Der Lausanner Arzt und der Wiener Monarch befürworten beide die damals neuartige Pockenimpfung. Über diesen grossen medizinischen Fortschritt werden sie sich unterhalten haben.
Via Payerne und Murten, wo Joseph II. im Hotel Adler absteigt, geht die Reise weiter – über die genaue Reiseroute lässt sich der Kaiser nicht aus und überrascht ständig aufs Neue. Dies sehr zum Ärger der subalternen Beamten, welche die besten Fahrwege evaluiert und alle Pferdewechselstationen angewiesen haben, für den noblen Kaiser ständig frische 24 Zug- und 6 Reitpferde bereitzuhalten – ohne dass Joseph auch nur einmal davon Gebrauch macht.
Am nächsten Tag, den 17. Juli, reist der deutsch-römische Kaiser mit seinem Tross nach Bern. Dort besucht er, der allem Militärischen grosse Bewunderung entgegenbringt und Kultur und Schönes hasst, zum Erstaunen des Publikums keinen einzigen Schultheissen oder hohen Offizier. Seit mehr als 300 Jahren war kein Kaiser in Bern zu Gast gewesen. Dennoch lehnt Joseph II. den Besuch der offiziellen Berner Delegation ab, die von Fellenberg, von Erlach oder de Graffenried und wie die Berner Patrizier sonst noch heissen, haben keinerlei Verständnis dafür.
Auch in Bern ärgert sich der Kaiser über aufdringliches Publikum, das sich an den Strassen und vor dem Hotel Falken postiert hat, um einen Blick auf den berühmten Monarchen zu werfen. Als ein Bauer Joseph II. so nahe kommt, dass er dem royalen Gast auf den Fuss tritt, bekommt dieser einen kaiserlichen Stockschlag verpasst.
Es ist hier in Bern bemerkenswert und wird auch in den folgenden Geschichten dieses Buchs immer wieder aufscheinen: Die Eidgenossenschaft, gerne als Wiege der Demokratie bezeichnet, bringt den hergereisten Monarchen stets ein grosses Interesse entgegen, und dies mit einer Leidenschaft, die doch etwas verblüfft.
«Wenn es den Kaiser juckt, so müssen sich die Völker kratzen.»
Heinrich Heine
Allem Jubel zum Trotz – der voyeuristische Pöbel in Bern ist enttäuscht: Der Kaiser trägt auf seinem hageren Körper nur einen bescheidenen braunen Rock mit Knöpfen aus Stahl. Den Gesichtsausdruck beschreiben Zaungäste als ernst bis sauer. Eine Magd meint: «Es ist manch einer in Bern, der mir besser gefiel.» Joseph II. reagiert auf seine Weise. Er schimpft über die «Populasse» und über die «mit Gaffern» angefüllte. Stadt. Daraufhin verschwindet er ohne Ankündigung für Stunden im Haus, lässt die Fensterläden schliessen und sich sein spezielles Nachtlager vorbereiten – es besteht zur Abhärtung nur aus einer Rentierhaut auf Gerstenstroh.
Joseph II. erholt sich erst wieder, als der erste Besuch im «Falken» ansteht. Der Kaiser empfängt Ludwig Zeerleder (1727–1792). Dieses Treffen wird in den Schriften über Joseph II. nicht oder nur am Rand erwähnt. Wahrscheinlich mit gutem Grund. Denn Zeerleder ist Josephs Schweizer Bankier.
Heute würde es nicht erstaunen, wenn ein ausländischer Potentat den Schweizer Bankier seines Vertrauens trifft. Doch im 18. Jahrhundert war es doch eher aussergewöhnlich, vor allen anderen zuerst seinen Finanzfachmann aufzusuchen. Ludwig Zeerleder ist «Spezierer», Dragonermajor und «Privatbanquier», er hat aus einem Engros-Handelshaus seine Privatbank entwickelt.
Was man dabei erwähnen sollte: Die alte Eidgenossenschaft befindet sich bereits im 18. Jahrhundert auf dem besten Weg zu einer Bankenhochburg. In Genf wirtschaften die Privatbanken von d’Aubert, Naville und Boissier; in St. Gallen die Högger, Schlumpf und von Zollikofer; in Neuenburg die Cartier, de Pury und de Rougemont; in Zürich die Meyer, Escher und von Muralt; in Basel die Burckhardt, Merian und Sarasin; in Bern die Hunziker und Gruner – neben Zeerleder.
Worüber der deutsch-römische Kaiser und sein Berner Bankier gesprochen haben, ist leider nicht überliefert. Möglicherweise verwaltet Zeerleder kaiserliches Vermögen; der Stand Bern verlieh verschiedentlich Geld an Städte und Fürsten in Deutschland und investierte in die Wiener Stadtbank. Doch die höchsten Häupter galten als schlechte Schuldner.
Immerhin ist Josephs Sparsamkeit bekannt und aktenkundig, er stand sogar im Ruf, geizig zu sein, was ein weiterer grosser Gegensatz zu anderen Monarchen Europas darstellte. So könnte es sein, dass Zeerleder dem Kaiser einen Kredit gewährte oder im Fall eines Kriegs in Aussicht stellte. Wir wissen es nicht, denn schon damals fanden Bankgeschäfte eher im Verborgenen statt.
Was aber überliefert ist: Zeerleder ist in zweiter Ehe verheiratet mit Sophia Charlotte Haller (1748–1805), der Tochter von Albrecht von Haller. Es kann also gut sein, dass der Bankfachmann von den Qualitäten seines Schwiegervaters vorgeschwärmt hat und Joseph erst so auf die Idee gebracht hat, diesen zu besuchen. Jedenfalls begleitet Zeerleder den Kaiser bei den weiteren Unternehmungen in Bern, ein Vertrauensbeweis seitens Josephs.
Gespräch über Drogen
Zum Erstaunen der Berner Patrizier besucht der Kaiser nach dem Zeughaus und einer Arbeitsanstalt eben Zeerleders Schwiegervater, den Gelehrten Albrecht von Haller. Dieser gilt als Universalgenie: Er forschte in den Fachgebieten Anatomie, Chirurgie, Physiologie und Botanik, beherrschte die Feinheiten von Mathematik, Chemie und Physik. Er sammelte das Wissen seiner Zeit in unfassbar dicken Enzyklopädien. Nebenbei schrieb er auch noch Liebesgedichte und Staatsromane, beschäftigte sich mit philosophischen und theologischen Fragen – und berühmt wurde er mit seinem Naturepos «Über die Alpen.»
So geachtet und erfolgreich von Haller als Forscher war, politisch scheiterte er immer wieder: Nicht weniger als neun Mal versuchte er in Bern in den Kleinen Rat gewählt zu werden, jedoch ohne Erfolg.
Jetzt aber verschmäht Joseph II. den Besuch von Räten und sucht stattdessen Albrecht von Haller auf. Der Wissenschafter ist im Jahr 1777 ein alter, gebrochener Mann, opiumsüchtig und hypochondrisch. Der einst stolze, 1.90 Meter grosse Mann kann nur noch vornübergebeugt gehen. Trotz des hohen Besuchs trägt er in den einfachen Zimmern an der Inselgasse nur seinen ausgebeulten Nachtrock. Haller soll seinen adeligen Gast mit zitternder Stimme empfangen haben: «Gnädiger Herr, Sie erweisen einem sterbenden Greis zu viel der Ehre.»
Der Kaiser aber führt den alten Mann zu seinem Stuhl zurück, setzt sich und unterhält sich längere Zeit mit ihm, sodass der schwache Greis ungewöhnlich auflebt. Der Kaiser und der Gastgeber sprechen auch über Drogen, nämlich über Hallers Opium. Joseph verspricht, Opium besserer Qualität nach Bern zu schicken. Mehr als eine Stunde dauert der hohe Besuch, wie Beobachter genau und wohl auch etwas eifersüchtig rapportieren.
Kurz nach der Visite meint Joseph II. über von Haller:« Ja – das ist ein Mann! Nie wird diese interessante Stunde aus meinem Gedächtnis schwinden! Wie schade, dass der Verlust dieses vortrefflichen Mannes so nahe ist.» Tatsächlich stirbt von Haller noch im gleichen Jahr, und Joseph II. lässt seiner Begeisterung Taten folgen: Er kauft Hallers Privatbibliothek mit allen Büchern und Handschriften. Auf Maultieren gelangen die Werke über die Alpen in die Universität von Pavia.
Der Aufenthalt in Bern neigt sich dem Ende zu. Am nächsten Morgen reist der Kaiser nicht wie geplant nach Langnau im Emmental, um den berühmten Naturarzt Michael Schüppach kennenzulernen. Stattdessen unternimmt er morgens um vier Uhr zuerst einen Spaziergang durch die noch schlafende Stadt. Dabei besteigt er die Aussichtsplattform beim Berner Münster, die er «magnifique» findet. Eine Stunde später fährt er mit der Kutsche über Land nach Lohn bei Solothurn. Dort isst er zum Frühstück kalten Kalbsbraten und trifft auf zwei Bauern, die in der Morgensonne vor dem Wirtshaus sitzen. Er grüsst die beiden und kommt mit ihnen ins Gespräch, sie reden übers Brot und über ihren Landvogt. In sein Tagebuch notiert der Kaiser: «Die Bauern scheinen arm zu seyn, weilen alle ihre Kinder betteln.»
Da nähert sich ein nobler Herr in einem teuren, roten Rock mit einem blauen Ordensband und ist ganz entzückt darüber, den Kaiser unverhofft anzutreffen. Doch der Kaiser zeigt gar keine Lust, mit dem Adeligen Konversation zu betreiben, und weist ihn schroff mit dem Hinweis ab, dass er keine Audienz gewähre.
Die Kunde von der unhöflichen Abfuhr des Edelmanns verbreitet sich rasch in der alten Eidgenossenschaft und wird von den Schweizer Aristokraten zum Anlass genommen, um dem Kaiser mangelnde Loyalität zur bestehenden Gesellschaftsordnung vorzuwerfen. Der Kaiser treibt es auf die Spitze, als er wertvolle Geschenke von Patriziern ungeöffnet zurücksenden lässt – nochmals ein Affront sondergleichen. Dass Joseph danach zwar nach Solothurn reist, dort aber keine Minute darauf verwendet, die prächtige und erst vor vier Jahren eröffnete St. Ursen-Kathedrale zu besichtigen oder den französischen Botschafter zu besuchen, stösst nicht nur den Patriziern in Solothurn sauer auf.
Joseph verhält sich nicht zufällig so barsch gegenüber den Schweizer Aristokraten: Er will sich als modernen, aufgeklärten Herrscher präsentieren. Ihm ist es wichtig, sich von der Prunksucht anderer Monarchen deutlich abzusetzen, zum Beispiel von seinem Schwager Ludwig XVI. in Frankreich. Der deutsch-römische Kaiser befindet sich quasi auf einer grossen PR- und Image-Tour, auf der er sich als bodenständig, zeitgemäss und volksnah inszenieren will.
Deshalb lässt er all die Barockpalais in und um Solothurn links liegen und verbringt die nächste Nacht im einfachen Gasthaus zum Bären im kleinen Juradorf Langenbruck. Auch hier befragt der Kaiser den Bauern, der den «Bären» nebenher führt: Warum kein Bauer Anteil an der Regierung habe, wo doch die Schweiz als so demokratisch gelte?
Der Befragte zuckt nur mit den Schultern und meint, das sei schon immer so gewesen. Joseph aber ärgert sich darüber und zieht in seinem Tagebuch Bilanz: Das Gebiet des Kantons Bern sei zwar ganz schön, aber 200 würden den ganzen Kanton «auffressen» – damit meint er die 200 Räte. Im «Bären» hat der Kaiser mit seiner ungekünstelten Art so sehr Eindruck gemacht, dass noch Jahrzehnte später ein glorifizierendes Porträt von ihm in der Gaststube hängt.
Kraftausdrücke und eindeutige Gesten
Am kommenden Tag, den 19. Juli, bricht der royale Tross mit dem Kaiser morgens um vier Uhr auf. Das nächste Reiseziel ist Basel. Der Kaiser steigt dort im Hotel Zu den Drei Königen ab. Auch hier zeigt sich das gleiche Bild wie in Genf oder Bern: Joseph unterläuft die Erwartungen des Ancien Régime. Wieder fühlt er sich bedrängt. Zum einen von Markgraf Karl Friedrich von Baden, der unangemeldet auftaucht. Zum anderen von einer Frau mit einem Rechtsproblem, die sich dem Kaiser buchstäblich vor die Füsse wirft. Joseph II. reagiert auf die zwei unerwarteten Begegnungen mit ausgesprochen schlechter Laune und verlangt die sofortige Weiterreise.
Mit Kraftausdrücken und eindeutigen Gesten verschafft er sich Luft, weist Basler Standesvertreter ab und besucht daraufhin keinen der Basler Noblen, sondern Jacob Sarasin, einen Seidenbandfabrikanten, dann Daniel Bernoulli, den Mathematiker und Physiker. Beide löchert der wissensdurstige Kaiser mit «hundert Fragen»; er schiebt, wie es seine Art ist, die nächste Frage nach, ohne das Ende der ersten Antwort abzuwarten.
Schliesslich macht er noch einen Abstecher zu den berühmten Totentanz-Malereien von Hans Holbein, die ihm aber nicht gefallen, auch weil viele Gaffer ihm die Sicht versperren. Josephs Begleiter in Basel ist Christian Mechel, der Kupferstecher, Kunsthändler, Stichverleger und Zeichner. Dieser lotst den Kaiser zu sich in den Erlacherhof (in der St. Johanns-Vorstadt). Der unadelige, aber geschäftstüchtige Mechel (1737–1817) hatte bereits zwei Mal Johann Wolfgang von Goethe zu Gast, und auch der berühmte Mathematiker Johann Bernoulli oder Herzog Carl August von Weimar gehören zu seinen Kunden. Der Fachmann zeigt dem Kaiser seine fast schon fabrikmässige Arbeit mit Bildern und diskutiert viele technische Fragen bezüglich der Stichproduktion.
Beim anschliessenden Mittagessen ist Mechel zugegen und zitiert sogar einzelne Scherzgedichte, sehr zur Freude des Kaisers. Die nicht anwesenden Neider finden das primitiv und streiten sich darüber, ob Mechel beim Diner nur dabei war oder ob er auch wirklich mitessen durfte.
Tatsache ist, dass Joseph den Basler zu den «besten Kupferstechern» zählt. Das zahlte sich für Mechel mehrfach aus: In den Jahren 1779 bis 1784 wirkt er auf persönliche Einladung des Kaisers am Wiener Hof, ordnet die kostbare kaiserliche Gemäldegalerie im Schloss Belvedere neu und nach kunstgeschichtlichen Kriterien. Fortan hat er direkten Zugang zu den Schaltstellen der Habsburger Monarchie und ist offiziell «Rathe der kaiserlichen Akademie.». Schliesslich wird der Basler von Joseph sogar in den Adelsstand gehoben: Er darf sich vornehmerweise «von Mechel» nennen.
Nach dem Mittagessen ist der Abstecher nach Basel bereits vorüber, nur gerade fünf Stunden hat er gedauert. Bei der Abreise stehen wieder Hunderte von Menschen im Weg. Ein Schuhmacher namens Meyer wird von der drängelnden Menge nach vorn gestossen und tritt auf des Kaisers Fuss, was ihre Majestät – wie schon in Bern – umgehend mit einem Stockschlag auf den Kopf des Baslers quittiert. Scherzeshalber heisst es danach in Basel, der Kaiser habe den Schuhmacher zum Ritter geschlagen.
Der Kaiser reist weiter nach Freiburg, besucht dort eine heilige Messe und fährt später nach Waldshut. Hier trifft er am 25. Juli nochmals eine Geistesgrösse der damaligen Eidgenossenschaft, die in den herrschenden Schichten nicht nur Freunde hat: Johann Caspar Lavater, der streitbare Pfarrer aus Zürich, der eben seine ersten Bände der «Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe» publiziert hat. Darin gibt er konkrete Anleitungen, anhand von Gesichts- und Körperformen verschiedene Charaktere zu erkennen – eine bis heute beliebte, aber umstrittene Methode der Menschenkenntnis. Lavater lehnt sich mit seinen Theorien weit aus dem Fenster, zudem ist seine sehr schwärmerische Art nicht jedermanns Sache. Er gilt als ehrgeizig bis eitel und als eine Art Promijäger seiner Zeit.
Trotz aller Vorbehalte interessiert sich der grundsätzlich neugierige Joseph II. für ihn. Die Audienz beim Kaiser schildert der übereifrige Lavater so: «Ich weiss nicht, wie ich die Treppe hochkam! Ob roth? Ob blass? … Das aber weiss ich, dass der erste Moment, da ich den Saal betrat, in seinem zimmtfarbenen Kleide der Kayser sich darstellte, mich zur […] sorglosen Heiterkeit stimmte […] so schicklich, so signifikant, so schmeichelhaft.» Vor allem Letzteres beherrscht der Zürcher Pfarrer meisterhaft: Er schmeichelt den Mächtigen, sodass seine Tagebucheintragungen geradezu vor überbordenden Gefühlen triefen. Er attestiert Joseph einen «an Genie gränzenden Verstand».
Dass der Kaiser ihn einen «gefährlichen Menschen» genannt haben soll, weil er «den Menschen ins Herz» hineinsehen könne, ehrt Lavater – und er rapportiert es noch so gern und lässt es publizieren. «Ich erwarte unendlich viel Gutes und sehr viel Grosses von diesem Fürsten», vor allem erhofft er sich eine Verbreitung seiner Physiognomik. Umgekehrt hat Lavater beim Kaiser doch nicht so viel Eindruck hinterlassen: Im sonst sehr ausführlichen Tagebuch von Joseph II. wird Lavater mit keinem Wort erwähnt.
Zum Abschluss der Schweizer Reise besucht der Kaiser am 26. Juli die Stadt Schaffhausen. Die Bevölkerung ist angehalten worden, weder «Tumult noch Gelärm» zu veranstalten. Joseph II. lässt sich den Rheinfall zeigen, er wird in zusammengebundenen Waidlingen so nah an den Wasserfall herangeführt, dass «uns der Schaum davon benezte», wie er in sein Tagebuch notiert. Der Monarch ist vom Naturschauspiel sichtlich bewegt.
Als er am Ende von mehr als tausend jubelnden Menschen empfangen wird, überrascht der Kaiser ein letztes Mal: Er erträgt die Menge mit Freude und Gelassenheit, was ihm in den anderen Schweizer Städten völlig abgegangen ist. Bei der anschliessenden Fahrt in der Kutsche steht Joseph II. sogar aufrecht, damit ihn die Menschen besser sehen können, und zieht den Hut. Manche wollen sogar einen «segnenden Blik» festgestellt haben.
Auch wenn der Kaiser auf seiner Tour de Suisse viele Aristokraten vor den Kopf gestossen hat, so schliesst die Schweizer Reise nun doch einigermassen versöhnlich. Und was noch wichtiger war: Joseph II. liess danach die Schweiz in Ruhe. Die Ängste der Aristokraten waren vergebens gewesen.
«Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch