Und er bewegt sich doch Von Sven Süss

Ein einsamer Lichtstrahl drang durch die geschlossenen Storen. Unterhalb, auf dem Bett, lag der alte Mann auf dem Rücken und blickte zur Decke, die Hände auf dem Bauch gefaltet.

Es war zwar Morgen, doch konnte Hans die Energie nicht aufbringen, um aufzustehen. Bald würde jemand vom Pflegepersonal ihn rufen und ihn zum Frühstücken auffordern. So verlief es schon jeden Morgen zuvor, seit er ins Pflegeheim gekommen war. Und so wird es auch jeden Morgen sein, dachte er grimmig.

Die einst neue Umgebung war für ihn inzwischen schon nicht mehr so fremd und er hatte sich an das Ganze gewöhnt. Dennoch hatte Hans immer wieder das Gefühl, es wäre besser gewesen, sich gegen das Drängen seiner Familie stärker zu wehren. Er war schliesslich nicht wie alle anderen hier, nicht so hilflos und senil, wie er es ausdrückte, aber er würde es werden, wenn er zu lange hier wäre, das befürchtete er zumindest.

Die Gedanken an seine Familie versuchte er zu verdrängen; er hatte nie eine gute Beziehung zu ihnen gehabt, und nun waren sie ihn losgeworden. Die Einzige, die er vermisste, war seine Enkelin, doch sie schien ihn auch vergessen zu haben. Hans drehte seinen Kopf zum Nachttisch und blickte mit traurigem Blick auf das Bild, das dort stand: Es zeigte seine verstorbene Frau und ihn selbst im Garten vor ihrem gemeinsamen Haus, welches nun jemand anderem gehörte.

Wieso musstest du bloss gehen, dachte er. Wir hätten noch so viel Zeit gehabt.

«Herr Müller», war zu vernehmen. Es klopfte an der Tür und eine Pflegerin kam herein, «es ist Zeit fürs Frühstück», sagte sie mit einem Lächeln, das von Hans mit beinahe grimmiger Miene erwidert wurde.

Innerlich seufzend richtete er sich auf und setzte sich an den Bettrand.

«Kann ich Ihnen helfen?», fragte die Pflegerin und näherte sich etwas.
«Nein, ich habe schon oft gesagt, dass ich keine Hilfe brauche», brummelte Hans.

Ächzend stand er auf, spürte, wie seine Gelenke knirschten, merkte, wie sie im Vergleich zum Vortag schwerer wirkten; doch was konnte er schon tun? Es hatte keinen Sinn mehr, nichts hatte mehr einen Sinn für ihn. Langsam lief er zum Schrank mit den Kleidern und zog sich an.

Danach folgte er der Pflegerin hinunter zum Speisesaal. Wie immer waren einige bereits fertig mit dem Frühstück, andere begannen es zur gleichen Zeit wie Hans, und noch andere würden es später nehmen oder bekamen es im Zimmer.

«Gut geschlafen?», fragte Gertrude, die immer neben Hans sass. Dieser nickte nur. Gertrude erzählte etwas über einen Traum, den sie gehabt hatte, doch Hans hörte nur halbherzig zu.

«Dasselbe wie immer, Herr Müller?», fragte ein Pfleger.

«Mhm», Hans fühlte sich müde, obwohl er genug geschlafen hatte, er war erschöpft. Erschöpft von allem und nichts.

Er widmete seine Aufmerksamkeit dem Essen, um auf keinen der anderen Heimbewohner eingehen zu müssen. In stillen, unbestimmten Gedanken versunken, verzehrte er, was vor ihm war, genauso, wie er es seit seiner Ankunft getan hatte.

Heute war wieder einer der Tage, an denen er fast keinen Hunger verspürte, dennoch ass Hans beinahe die Hälfte, sodass es nicht auffiel.

Für den Vormittag waren verschiedene Aktivitäten vorbereitet worden, von Spaziergängen über Aquafitness bis zu klassischen Brettspielen; es gab viele Möglichkeiten, doch für Hans kam nichts davon in Frage. Teilnehmen wollte er an nichts.

Wir werden nur beschäftigt, weil man nichts mehr mit uns tun kann, dachte er, sie warten alle nur darauf, dass wir sterben.

Verbittert lief Hans an den Gruppen vorbei, die sich bei den Aktivitäten versammelten. Er ging durch den grossen Aufenthaltsraum, wo die Tische mit den Spielen standen und auch schon einige Senioren spielten. Hans bemerkte, dass bei einigen anderen Heimbewohnern Familienmitglieder oder Verwandte vorbeigekommen waren, was ihn nicht gerade aufheiterte.

«Herr Müller», sprach ihn eine Pflegerin an. «Jakob sucht noch einen Partner fürs Schach, hätten Sie Lust, eine Partie …»
«Nein, ich habe keine Lust», wimmelte Hans ab und setzte seinen Weg fort. Er steuerte auf die Türe zum Innenhof mit dem kleinen Park zu.

Anfangs hatte er die meiste Zeit in seinem Zimmer verbracht, doch das Pflegepersonal hatte ihn ermuntert, auch rauszugehen und an den Aktivitäten teilzunehmen – mit mässigem Erfolg.

Die Glastür in den Innenhof öffnete sich und Hans ging hindurch. Hier hatte er immer seine Ruhe, konnte für sich sein, ohne dass ihn jemand ansprach.

Vorsichtig lief Hans über den Weg im Innenhof des Pflegeheims, bis er zu der Bank vor dem kleinen Teich gekommen war. Ächzend setzte er sich, blickte auf das stille Wasser auf der anderen Seite des Weges, während über ihm die Blätter eines Baumes im Wind rauschten. Er versuchte, das Ende des Parks nicht zu beachten, die Mauern des Pflegeheimes, die ihn umgaben. Nach kurzer Zeit schloss Hans die Augen, die Gegenwart rückte in die Ferne, er erinnerte sich an eine schönere Zeit, eine Zeit mit weniger Problemen. Doch kaum waren die wohligen Erinnerungen aufgetaucht, wurde Hans auch bewusst, dass diese Zeiten vorbei waren und nie wieder kommen würden. 

Er sah nun nicht mehr die Bilder von vergangenen Tagen, sondern nur noch Dunkelheit. Was gewesen war, war nun vorbei, verloren an die Zeit. Schwach seufzend beugte er sich vor und vergrub sein Gesicht in den Händen. Nichts ergab mehr einen Sinn, er konnte nichts mehr tun. Lange sass er noch auf der Bank und versuchte, sich an das Gute und Schöne zu erinnern, doch Trauer und Bedauern gewannen am Schluss immer die Oberhand.

Bei gemeinschaftlichen Erinnerungen siegte die jetzige, andauernde Einsamkeit; bei Erinnerungen an einst geliebte Beschäftigungen siegte die Sinnlosigkeit aller Dinge, und bei den wundervollsten Erinnerungen aus dem Leben siegte die immerwährende Drohung des Endes. Einsam sass Hans auf seinem Bänkchen und liess die Stunden vergehen.

«Ist alles gut bei Ihnen, Herr Müller?», fragte plötzlich jemand, und Hans wurde aus seiner Stille und Melancholie herausgerissen. Eine Pflegerin stand neben der Bank und blickte ihn an. Hans erwiderte ihren Blick kurz und fragte sich, ob er etwas sagen sollte.

Sie hat Wichtigeres zu tun, dachte er schliesslich, ich will ihr nicht noch meine Probleme aufbürden.

«Ja», sagte er und wandte seinen Blick ab, «alles ist gut.» Der Rest des Tages verlief ereignislos, und abends lag Hans wieder in seinem Bett. Er erinnerte sich an die Zeiten, in denen seine Frau noch bei ihm war. An die Zeiten, wo Einsamkeit nicht existierte. In Erinnerungen versunken, starrte Hans an die Zimmerdecke, doch eigentlich blickte er nur ins Leere. Er dachte übers Sterben nach; doch der Tod wirkte für ihn nicht wie etwas Schreckliches, nein, Hans sah es beinahe als Erlösung, denn vielleicht würde er seine geliebte Frau wiedersehen. Und wenn nicht, so dachte er, dann wäre wenigstens alles vorbei.

Er schloss seine Augen und die Dunkelheit umfing ihn. Es war ihm gleich, ob er am nächsten Morgen aufwachen würde – oder nicht.

Ein einsamer Lichtstrahl drang durch die geschlossenen Storen; wie am letzten Morgen lag Hans auf dem Bett, bereits wach, den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet. Er wusste, dass bald jemand vom Pflegepersonal ihn rufen würde, dann würde es Essen geben, danach würde er duschen und sich dann auf seine Bank setzen, genau gleich wie an allen Tagen. Langsam wurde ihm alles zu viel, alles war anstrengend geworden, das Leben war anstrengend geworden.

«Herr Müller, sind sie schon wach?», ertönte die Stimme von draussen. Das Ganze kam Hans vor wie ein Karussell, und inzwischen war ihm schon schlecht, er hatte schon lange aufgehört, die Fahrt zu geniessen. Trotzdem zog er sich an und folgte der Pflegerin. Wie immer nahm Hans die Treppe hinunter in den grossen Saal, und auf die Frage, ob er Hilfe brauche, antwortete er wie immer mit «Nein». Langsam betrat er die Stufen und stieg hinunter. Der Boden war schon in Sicht, als Hans eine Stufe verfehlte und stürzte. Sofort eilten Pfleger herbei, um ihm zu helfen, während er selbst geschockt war und noch nicht genau wusste, was gerade passiert war.

Hans hatte nur einige Kratzer und Prellungen abgekriegt, und beinahe hätte alles so weitergehen können wie zuvor. Doch seit dem Unfall und in den Tagen darauf, achteten sich die Pfleger mehr auf ihn und liessen sich nicht gleich wieder abwimmeln. Seine geliebte und verhasste Einsamkeit war ihm entrissen worden.

Bald werden sie mich wieder vergessen und in Ruhe lassen, dachte Hans grimmig, doch es vergingen noch weitere Tage, bis er wieder etwas mehr alleine gelassen wurde. Allerdings liess man ihn nicht mehr alleine auf seine Bank; ständig, und für Hans lästig, wurde er begleitet. Nun versuchte man auch mehr, ihn mit den anderen Heimbewohnern zu verbandeln, was aber nicht sonderlich gut gelang. Hans ging weiterhin allen aus dem Weg.

Er sass im Aufenthaltsraum, da er keine Lust hatte, zu seiner Bank, seinem Zufluchtsort, eskortiert zu werden. Inzwischen empfand er alles als noch schlimmer und unerträglicher als zuvor, und es fiel ihm schwer, zu versuchen, sich daran zu gewöhnen, mehr so zu werden wie die anderen hier: hilflos.

«Herr Müller», eine Pflegerin kam zu ihm, «Jakob sucht noch jemanden für eine Partie Schach.»
«Ich habe keine Lust, lassen Sie mich bitte in Ruhe.» Hans schloss im Sessel die Augen, er wollte allein sein, Stille geniessen können; ebenjene Stille, die ihm auch viele Probleme bereitete.

«Herr Müller?»

Hans wollte sich umdrehen und fluchen, was denn jetzt schon wieder sei, ob man ihn nicht einfach für sich lassen könne, doch er tat es nicht. Es hatte keinen Zweck, dachte er.

«Ein Anruf für Sie», sagte der Pfleger lächelnd.

Hans blickte auf. Wer konnte das sein? Hatten die Pfleger den Unfall seiner Familie gemeldet und sie kamen zu ihm mit gespieltem Mitleid? Hans stand auf und ging begleitet vom Pfleger zum Telefon. Er nahm den Hörer entgegen.

«Hallo?», fragte er etwas mürrisch; unsicher, was er zu erwarten hatte.
«Hallo Opa!»

Hans’ Ausdruck wurde fröhlicher, und er lächelte; es war seine Enkelin.

«Wie geht es dir?», fragte sie, und Hans fasste sich mit einer Hand an das Pflaster am Kopf. Er dachte an die vielen Momente der Einsamkeit und der dunklen Gedanken. Am liebsten hätte er ihr alles erzählt, doch noch konnte er es nicht tun.

«Mir geht’s gut», sagte er.
«Das freut mich», antwortete sie, und Hans stellte sich vor, wie sie am anderen Ende der Leitung lächelte. «Wie wäre es, wenn ich dich mal besuchen komme? Ich habe nun wieder etwas mehr Zeit, die Prüfungen sind vorbei.»
«Das wäre schön», erwiderte Hans lächelnd.
«Wie wäre es nächste Woche am Montag? Ich hoffe, du langweilst dich bis dann nicht zu sehr», antwortete sie und lachte.
«Nein, nein», Hans musste auch lachen, «Montag klingt gut. Ich freue mich auf dich!»
«Super! Dann bis bald!»
«Bis bald.»

Hans legte auf, lächelnd drehte er sich vom Telefon weg und begab sich zurück zum Sessel im Aufenthaltsraum. Auf der Hälfte des Wegs fiel sein Blick auf Jakob, der vor einem Schachbrett die Zeitung las. Die restlichen Tage bis zum Besuch wollte Hans nicht tatenlos herumsitzen; er freute sich zum ersten Mal wieder auf etwas.

«Ist hier noch frei?»
Jakob blickte von seiner Zeitung auf und nickte lächelnd.
«Natürlich!»
«Weiss oder Schwarz?», fragte Hans.


Sven Süss wurde 2001 in Zürich geboren und verbrachte dort den Grossteil seines Lebens. Mit vierzehn Jahren zog er nach Bern und schloss im Sommer 2020 das Gymnasium mit Matura ab. Das Schreiben entdeckte er mit rund fünfzehn Jahren; seither verfasste er unzählige kürzere, aber auch längere Texte und Gedichte. Das Letzte, was er vorhat, ist: mit dem Schreiben aufhören.


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 19.06.2022

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