Wanderer auf dem Heimweg (Kapitel 8.6) Aus «Schneesturm im Sommer»
Als Jakob nachmittags mit Peter und Therese den Rückweg antrat und über den Alpenrosenhang zur Fluh hinunterging, spürte er die lange Morgenwanderung in den Beinen und fragte sich, ob er nicht da oben übernachten sollte, statt mit flinken jungen Leuten bei schwülerem Wetter noch einmal so weit zu wandern. Da hörten sie aus einiger Entfernung ein hartes Klopfen, eben als sie beim Lattenhag durch das Gatter zum Fluhweg kamen. Befremdet hielten sie an, horchten und wollten nicht weiter, bevor sie wussten, wer oder was da klopfte. Sie gingen leise dem Saum der Fluh entlang, spähten hinab und entdeckten auf einem Rasenband einen Mann, der hämmernd an der Felswand kauerte.
«Der Herr Achermann», rief Therese aufatmend.
Der Mann schaute kurz zu den Leuten hinauf, wandte sich ab und verschwand hinter einer Ecke, aber Jakob hatte sein Gesicht gesehen, ein schmales, braunes, misstrauisches Bauerngesicht. Therese stieg in das leicht zugängliche Bandhinunter, folgte dem Mann und kehrte nach einer Weile mit ihm zurück. Jakob Leuenberger und Jost Achermann, Grossmutter Vrenes Schwager, begrüssten sich freundlich, erkannten einander aber nicht mehr und liessen sich durch die solang vergangene flüchtige Jugendkameradschaft auch nicht gleich zu einer Annäherung bewegen. Achermann, ein grosser magerer Mann mit einer kräftigen Stimme und einem wachen Ausdruck, der in der Nähe nun doch eher den einstigen Lehrer als den Bauern verriet, fragte den städtischen Herrn immerhin besorgt, ob er nicht lieber heute ausruhen und morgen zurückwandern wolle. In der Sennhütte seien zwar die besseren Schlafplätze besetzt, aber in der Alten Hütte, wo er zur Zeit selber niste, fände man im Heulager noch Platz, wenn man keine weiteren Ansprüche stelle. Jakob ging darauf ein, beauftragte Therese und Peter mit der Meldung nach Seewilen, wünschte ihnen gute Heimkehr und blieb zurück.
«Aber lassen Sie sich nicht stören, Herr Achermann, Sie waren beschäftigt», sagte er.
Achermann winkte ab, als ob das ganz unwichtig wäre, doch wich er einer anteilnehmenden Frage nicht aus undv erriet, was ihn beschäftigte. Er stieg mit Jakob in das Band hinunter und zeigte ihm Stellen in der Felswand, die nicht brüchig, sondern wie geschliffen aussahen. «Hier hat ein Eiszeitgletscher den Fels geschliffen», erklärte er leise, bedeutsam. «Die Wand besteht aus verschiedenem Kalkgestein, ich habe mir ein paar Stücke herausgeklopft, die ich mit anderen vergleichen will. Diese Gletscherschliffe beweisen …» Er überlegte, wie er es anschaulich sagen könnte, und fuhr fort: «Man sieht hier zwischen den beiden Bergzügen durch das ganze Tal hinaus, das immer tiefer und breiter wird. Dieses Tal ist vom Gletschereis und seinen Schmelzwassern in vielen Jahrtausenden so geschaffen worden. Beweise dafür sind die Schliffe hier im Fels, andere weiter unten und vorn auf der Schafweide, wo das Kreuz steht; ganz im Hintergrund, über das hier nicht sichtbare Seewilen hinaus, erkennt man einen Waldhang des Quertales, und dort liegen Felsblöcke, die wahrscheinlich von dieser Fluh hier stammen und auf dem Gletscher dort hinausgewandert sind. Ich habe Proben davon und will sie mit den Stücken vergleichen, die ich da herausgeschlagen…»
Er brach ab, nahm Jakob mit einem raschen, vertraulich wirkenden Griff am Arm und blickte vorgebeugt nach rechts der Felswand entlang, wo etwas wie ein grosser bunter Falter über das schroffe Gestein hingaukelte. «Der Mauerläufer», erklärte er freudig gespannt. Jakob sah, wie der Vogel, den er nicht kannte, zur Wand hinflog, unscheinbar grau daran emporglitt und überraschend mit rot und weiss auf leuchtenden Flügeln wegtaumelte, dann wieder grau am grauen Gestein verschwand. «Wo ist er jetzt?», fragte er. «Hinter dem kleinen Strauch dort … jetzt ist er darüber … er sucht Spinnen und Kerbtierchen, die man auch noch kennen sollte. Der Strauch ist die Felsenkirsche, das Gestein ist hauptsächlich Kieselkalk, hier stellenweise mit Pyrit wie mit Gold besät …die Hirten halten es für Gold … jetzt rüttelt er wie ein Turmfalk…» Der Vogel rüttelte, stürzte in die Tiefe und tauchte auf breiten Schwingen schaukelnd wieder auf.
Jakob, der den ganzen Morgen wie durch die endlich gefundene Welt seiner heimlichsten Ahnungen gewandert war, fand auch hier noch alles im Einklang damit, den nie vorhergesehenen lustvoll gaukelnden Vogel, die in vorgeschichtlichen Jahrtausenden vom Gletschereis angeschliffene, goldbesäte schroffe Fluh, dahinter das weit in den nachmittäglichen Glanz hinaus geöffnete Tal und dicht am Abgrund den hingegeben ausschauenden Mann.
Auf dem Rückweg führte Achermann seinen Gast in einem abgelegenen Winkel der Alp zu einem gelblichbraun verwitternden Gestein und zeigte ihm darin wie seltene Kostbarkeiten versteinerte Reste von Nummuliten. «Diese Tiere», erklärte er, «haben vor ungefähr sechzig Millionen Jahren im Meer gelebt. Und jetzt liegen sie da. Aber warum sie daliegen, und nicht mehr dort, wo sie gelebt haben, das wäre kaum zu glauben, wenn man es nicht wüsste. Die Schicht, aus der sie stammen, wird zum älteren Tertiär gerechnet, zum Eozän, sie kommt in unseren Gebieten da und dort vor. Mir ist das alles sehr gegenwärtig, und ich kann mich nur immer wieder wundern …» Er liess das Thema fallen und beschäftigte sich auf dem Gang zu den Hütten höflich mit seinem Gaste, aber Jakob führte ihn abends spät darauf zurück, als sie im Dunkel der Alten Hütte schon nebeneinander unter Wolldecken im Heu lagen.
«Sie haben mir eine Schicht aus dem Tertiär gezeigt, Herr Achermann. Ich kenne das Wort noch vom Naturgeschichtsunterricht her, weiss aber, ehrlich gestanden, nicht mehr recht, welche Zeit ich mir darunter vorzustellen habe. Sie befassen sich also vor allem mit Geologie?»
«Nicht vor allem. Ich hätte Ihnen neben den Versteinerungen dort noch anderes zeigen können, zum Beispiel ein merkwürdig blühendes seltenes Pflänzchen. Aber damit wollte ich nicht auch noch anfangen.»
«Das hätten Sie doch tun sollen. Ich hatte immer Freude an den Blumen, aber meine botanischen Kenntnisse sind äusserst bescheiden. Sie sind also auch auf diesem Gebiete…»
«Ein Liebhaber, der noch viel zu lernen hat, mehr nicht. Ich entdecke immer wieder irgendeine mir unbekannte, bewundernswerte Pflanze und kann mich dann nicht damit begnügen, sie gesehen zu haben, ich muss sie näher kennenlernen.»
«Da hat Ihnen die Wissenschaft zum Glück ja ordentlich vorgearbeitet.»
«Ja, die Wissenschaft … Ich hätte gern Naturwissenschaft studiert … stattdesssen durfte ich Schullehrer werden, weil das rascher ging und mich früher auf die eigenen Beine stellte. Aber das ganz wunderbare, unergründliche Leben der Erde, eben das, was man Natur nennt, hat mir keine Ruhegelassen…»
«Ihre Schwägerin, Frau Achermann-Leuenberger, sagte mir … ‹Mein Schwager Jost›, sagte sie, ‹ist noch immer in die Natur vernarrt wie als junger Seminarist.› Übrigens soll ich Sie von ihr grüssen.»
«So? Ja, danke.» Damit verstummte er für eine Weile.
Jakob wollte das Gespräch nicht einschlafen lassen und erzählte, wie ihn der Tod seines Namensvetters Jakob Leuenberger an diese weitläufige Verwandtschaft erinnert und dann sogar nach Seewilen zur Familie selber geführt habe, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang. «Die Leute haben mir gefallen. Ich kam aus der Stadt, wo die Verhältnisse verwickelter und die Menschen problematischer sind. Und bei Leuenbergers dann dieses einfache, selbstverständliche Dasein, ohne Misston, voller Wohlwollen …» Er lobte die Familie weiter, besonders den Bauern, und verstummte dann seinerseits.
Achermann liess das Lob gelten, doch am Bauern hatte er einiges auszusetzen. «Ich wollte mir auf dem Seeflüeli, das ihm gehörte, für meine alten Tage eine Klause bauen, aber er verkaufte es nicht mir, ein Fremder bekam es. Ich hätte ihm gleich viel dafür bezahlt, was er mir vielleicht nicht zutraute, ausserdem war ich ja auch nur ein Einheimischer, und der andere, der Fremde, versprach noch, in Seewilen ein industrielles Unternehmen anzusiedeln. Ich war gegen die Industrie, aber natürlich kam sie dann doch. Jetzt laufen die Jungen aus den Bauernhöfen in die Fabrik, wo ihre Arbeit zwar besser bezahlt wird, aber keinen tieferen Sinn mehr hat. Unterdessen geht es mit der Landwirtschaft bergab, sie verliert ihre eigenen Leute und verliert auch immer mehr Grund und Boden.»
«Überall dasselbe. Man kann es erklären, aber kaum ändern. Es hängt mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen, die noch andere fragwürdige Seiten hat.»
«Aber bitte, Herr Leuenberger, wie wird das enden?»
«Schwer zu sagen. Man hört darüber viele Meinungen. Es braucht aber, glaube ich, nicht unbedingt einen schlimmen Verlauf zu nehmen.»
Zum Autor
Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.
Die beiden ungleichen Männer, die da in einer Alphütte schlaflos nebeneinander im Heu lagen, begannen über das Wohlergehen von Land und Volk zu reden, ohne einig zu werden. Jakob verteidigte den allgemeinen Wohlstand, der unentbehrlich sei, um die Menschen glücklich zu machen, Jost dagegen behauptete, der innere Wohlstand eines Volkes sei wichtiger als der äussere und verbürge auch allein das wahre Glück. Am Ende kamen sie einander mit der Meinung entgegen, dass ein gewisses Gleichgewicht am wünschenswertesten, jedoch höchstens für Einzelne, aber vorläufig kaum auch für die Masse zu erreichen wäre; der Mensch, fanden sie, sei im Grunde ein rätselhaftes, noch ganz ungenügend erforschtes Wesen.
Das Heu knisterte unter ihnen, wenn sie sich drehten, und sonderbare Geräusche umgaben die Hütte, das Schnaufen grosser Tiere oder schweifender Winde, dumpfes Muhen, halb drohend, halb klagend, träumerisches Glockengetön und manchmal, wenn sich ein Rind am Türpfosten den Hals rieb, ein jähes Geschell, als ob ein nächtlicher Besucher Einlass fordernd zornig an der Hausglocke zöge. Grosse Vögel schienen im Flug das Dach zu streifen, immer mehr, ganze Züge von Vögeln, aber das konnte nur mehr der Wind sein, der sich in Schwüngen auf die Hütte warf, und plötzlich erfüllte ein Donnern die Nacht.
«‹Gelobt sei Jesus Christus›, würde der alte Urs Lieni sagen und damit alle Rätsel lösen. Urs Leonhardt von der Ursenmatt, Urs Lieni oder kurz nur Urs genannt, ist der Hirt auf Oberstaffel.»
«So einfach werden Sie sich die Lösung nicht vorstellen. Beschäftigt Sie das?»
«Ja, aber ich suche nicht nach Lösungen, ich schaue an, staune, verehre … Und Sie?»
«Hm, ich habe gelebt. Aber am Ende wird man nachdenklich, möchte manches wissen und entdeckt, wie wenig man weiss. Sie waren schon früh mit der Natur beschäftigt …»
«… in die Natur vernarrt, sagte die Vrene, oder? Jaja. Damals, als wir beide, Sie und ich, eine gewisse Quelle suchen wollten, dachte ich, es gehe Ihnen ähnlich wie mir.»
«Was, Jost, daran erinnern Sie sich noch?»
«Ja, und zwar deshalb, weil ich nicht nur in die Natur, sondern auch noch ins Vreni vernarrt war. Und dann kommt so einer aus der Stadt, ein Student, der Jakob Leuenberger heisst und mit dem ich kameradschaftlich verkehre, bis ich merke, dass Vreni nur noch für ihn Augen hat.»
«Jost, auf Ehrenwort, das hab’ ich nicht gewusst, jedenfalls weiss ich nichts mehr davon.»
«Aber ich. ‹Jakob›, dachte ich, ‹du wirst mir doch Vreni nicht abspenstig machen?› Ich begann eifersüchtig aufzupassen.»
«Hättest du doch etwas gesagt! Ich hatte ja keine Ahnung.»
«Wir haben zusammen Vreni und ihren Bruder begleitet, als sie mit dem Vieh auffuhren, du verschwandest dann auf einmal, da dachte ich, du wollest mich abschütteln, vorausgehen, auf Vreni warten, und ich folgte dir heimlich …»
«Und dann muss ich mich verirrt haben. Jost, was waren das für Kindereien!»
«Für mich waren es keine Kindereien. Du hast dich nicht besonders um Vreni gekümmert, das gebe ich zu, und schliesslich war sie noch ein Kind. Aber ich kam nicht mehr von ihr los und wollte sie heiraten, als sie achtzehn wurde.»
Das Gewitter brach über die Alp herein, geisterhafter Schein durchzuckte die Hütte, gewaltig donnerndes Gepolter folgte den Blitzen, Rinder brüllten, Regen prasselte aufs Schindeldach.
«Urs würde aufstehen und in die Nacht hinausrufen: ‹Schickt dich der Herrgott, sei willkommen, schickt dich derVerfluchte, sei verflucht!›»
«In den Städten arbeitet man oder vergnügt sich oderschläft, wenn es gewittert, man lebt wie in Festungen. Hier ist das ganz anders, das hab’ ich schon gestern in Seewilen gedacht. Die Vrene hat beim Heuen tüchtig mitgeholfen und ist überhaupt … Du sollest wieder einmal heimkommen, hat sie auch noch gesagt.»
«Jahrelang hat sie mich balzen lassen und weder ja noch nein gesagt, und dann, auf einmal, heiratet sie meinen Bruder… Hab’ ich nie verstanden. Mein Bruder war älter, zuverlässiger und bessergestellt als ich, gut, aber ich hab’ es trotzdem nicht verstanden.»
«Frauen und Mädchen wissen manchmal selber nicht genau, warum sie dies und jenes tun. Aber auch wir Männer sind nicht immer zu begreifen. Es wird ja stimmen, dass der Mensch ein rätselhaftes Wesen ist.»
Sie hingen schweigend ihren eigenen Gedanken nach und schliefen allgemach ein. Das Gewitter zog murrend ab.
- Die «Editorische Notiz» zum Buch finden Sie hier.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Schneesturm im Hochsommer» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Weitere Kapitel können Sie hier lesen.
«Schneesturm im Sommer»
Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.
«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt
Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich
Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
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