Wir holen alles nach, Kapitel 6 Von Martina Borger
Bei ihrer Rückkehr in die Agentur am Montag hat Sina in ihrem Postfach hundertsiebenundzwanzig Mails vorgefunden, davon dreiundzwanzig mit hoher Priorität.
Sie hat allein den halben Vormittag gebraucht, um die Nachrichten zu lesen, beantwortet hat sie noch lange nicht alle, nicht mal nach drei Tagen. Und als sie heute Abend gegangen ist, um Elvis von Ellen abzuholen, wie sie es ihm morgens versprochen hat, kündigte H. C. ihr an, dass sie am kommenden Samstag arbeiten muss, sie sind mit der Kampagne für die neue Chips-Sorte in Verzug, die in zwei Wochen präsentiert werden soll. Auch der Sonntag ist nur mit Vorbehalt frei, kann sein, dass sie auch da noch ein paar Stunden antreten muss.
Sina geht zur Tür, öffnet sie halb und lauscht in Richtung Wohnzimmer, wo Elvis auf Netflix eine Komödie guckt, die er bestimmt schon zehnmal gesehen hat, dreimal allein mit ihr. Er liebt diesen Film und kennt ihn in- und auswendig, inklusive sämtlicher Dialoge. So ganz kann Sina seine Begeisterung nicht nachvollziehen, sie findet die Gags flach und die Wendungen vorhersehbar, aber egal. Zumindest ist er jetzt auf den Film konzentriert, und sie kann telefonieren, ohne dass er mithört.
Sie hatte mit Elvis für Samstag einen Ausflug geplant, als kleinen Trost für den geplatzten Urlaub mit David. Torsten wollte auch mitkommen. Sie hatte sich zwei Ziele überlegt, von denen sich Elvis eins aussuchen sollte, entweder Ritterspiele in einer Kleinstadt, etwa eine Autostunde entfernt, oder ein Besuch in der Flugwerft. Das fällt jetzt flach, mal wieder. Natürlich ist es H. C. scheissegal, dass er einen Jungen enttäuscht, der sowieso sehr wenig von seiner Mutter hat. Eigentlich nimmt er überhaupt nicht zur Kenntnis, dass Sina ein Kind und dass dieses Kind Wünsche und Bedürfnisse hat. Sie könnte wetten, dass er sich nicht mal an Elvis’ Namen erinnert, obwohl das wirklich leicht ist. Er erwähnt ihren Sohn immer nur dann, wenn er darauf verweist, wie grosszügig er mit ihren Arbeitszeiten umgeht, dass sie früher nach Hause gehen darf als alle anderen. Dass sie deshalb deutlich weniger Gehalt bekommt, unterschlägt er natürlich.
H. C. hat selbst drei Kinder, von zwei Frauen, mit keiner der beiden lebt er zusammen. Vermutlich alimentiert er sie grosszügig, damit sie ihm sämtliche Probleme vom Hals halten. Sie hingegen muss sich jetzt dringend was überlegen für Elvis’ Wochenende. Und zwar, ohne dass er ihre Not bemerkt, sie will nicht, dass er sich wie ein Klotz an ihrem Bein fühlt. Was er vermutlich schon längst tut.
Wenn sie Glück hat, ist Lukas samt Familie schon wieder zurück, und sie kann Lukas’ Mutter Katja fragen, ob sie Elvis am Samstag übernimmt. Im schlimmsten Fall muss sie ihn mit ins Büro nehmen und am Computer ruhigstellen, was sie allerdings nur äußerst ungern täte. Ihr schlechtes Gewissen ihrem Kind gegenüber beeinflusst ihre Arbeit, wirklich konzentriert ist sie nicht in Anwesenheit des Jungen, der zusammengesunken vor dem Laptop sitzt und sich eine Folge nach der anderen einer Schrottserie reinzieht. Zu dumm, dass Torstens Abteilung ausgerechnet an diesem Wochenende ein Kreativ-Weekend am Chiemsee macht, mit Coach, Rollenspielen und dem ganzen Brimborium, das Firmen heutzutage veranstalten, um mitzuhalten im globalen Konkurrenzkampf.
Sie erreicht bei Katja nur die Mailbox und bittet in locker-flockigem Ton um Rückruf, ohne zu sagen, worum es geht. Sie traut Katja zu, dass sie sich ansonsten nicht zurückmeldet, sie hat schon des Öfteren Unwillen signalisiert, wenn Sina gefragt hat, ob Elvis Lukas am Wochenende besuchen kann, so richtig fördert sie die Freundschaft zwischen den Jungs nicht. Als ob Elvis nicht gut genug sei für ihren Sohn, der natürlich hochbegabt ist und nach der vierten Klasse auf die Internationale Schule soll. Dabei sind seine Noten kaum besser als die von Elvis, was aber nach Katjas Überzeugung an der mangelnden Qualifikation der Lehrer liegt.
Katja und ihr Mann Louis sind häufige und gefürchtete Gäste der Lehrersprechstunden, auch bei Elternabenden sind sie meist die Wortführer, wenn es um Beschwerden aller Art geht, von zu hartem Klopapier bis zu den zu anspruchsvollen Diktaten. Es könnte auch sein, dass Sina selbst das Problem ist, dass sie als lange alleinerziehende und mit einem bis vor kurzem Arbeitslosen liierte Mutter, die zwar einen relativ gutbezahlten, aber doch untergeordneten Job hat, Katjas Ansprüchen nicht genügt.
Katja besitzt eine kleine Boutique mit edlen und entsprechend teuren Klamotten in Uni-Nähe. Sina hält den Laden für ein Abschreibungsobjekt von Louis, sie sieht selten Kundschaft in dem Geschäft, wenn sie zufällig vorbeikommt. Einmal hat sie sich dort eine schwarze Hose kaufen wollen, aber auch in die größte Grösse nicht reingepasst.
«Tut mir leid», hatte Katja gesagt, mit diesem herablassend-mitleidigen Unterton in der Stimme, «aber die Franzosen schneidern einfach nicht grösser.» Bullshit. Als ob es in Frankreich keine molligen Frauen gäbe. Wobei Katja sie vermutlich für dick hält, bestenfalls, sie trägt natürlich Grösse 36.
Sina hatte gespürt, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, so beschämt fühlte sie sich, gedemütigt von dieser dürren Ziege, vor der sie jetzt auch noch rot wurde. Aber anstatt hoch erhobenen Hauptes und mit einem lockeren Spruch den Laden zu verlassen, hatte sie ein Top gekauft, das zwar knapp sass, aber gerade noch halbwegs passte, und das sie seither ein einziges Mal getragen hat, sie fühlt sich darin wie eine Presswurst.
Katja bot ihr nicht einen Cent Rabatt an, obwohl sie sich bei den Werbegeschenken, die Sina aus der Agentur mitbringt, schon des Öfteren gerne bedient hat. Aber sie muss sich alle unfreundlichen Gedanken in Bezug auf Katja verbieten, sie ist weiß Gott nicht in der Position, an anderen herumzukritteln, von denen sie Hilfe braucht.
Sie scrollt weiter durch ihre Kontakte im Handy. Sie hat nur noch zwei andere Mütter in der Liste, mit deren Söhnen Elvis mal ausserhalb der Schule Kontakt hatte. So lange, wie das her ist, mag sie die nicht fragen, wer weiss, ob die Jungs überhaupt noch befreundet sind. Sie muss unbedingt dafür sorgen, dass Elvis mehr Kontakte zu Gleichaltrigen hat, nicht nur wegen potenzieller Betreuungsmöglichkeiten, sondern weil sie fürchtet, dass er ein Aussenseiter werden könnte. Was er, wenn sie es ehrlich betrachtet, schon längst ist.
Als sie in seinem Alter war, hatte sie mindestens ein halbes Dutzend Freundinnen, bei denen sie nachmittags immer willkommen war, sie musste sich nicht anmelden, ihre Mutter keine Play-Dates ausmachen. Aber sie ist auf dem Land grossgeworden, ist nach der Schule nach Hause gegangen und hatte, von den Hausaufgaben abgesehen, den Nachmittag frei. Elvis hingegen geht direkt von der Schule aus in den Hort und will von dort aus auch gleich heim, sein Bedürfnis nach Zeitvertreib mit anderen Kindern scheint gedeckt. Und die Wochenenden sind, auch bei ihr, für die Familie reserviert. In dieser Zeit versucht sie, alles nachzuholen, was unter der Woche zurückstehen musste. Gibt es eigentlich noch Mütter, die nicht arbeiten müssen, so wie ihre eigene? Oder die mit einem Halbtagsjob hinkommen? Sie kennt keine.
Natürlich könnte sie wegen Samstag auch Ellen fragen. Zu ihrer grossen Erleichterung ist Elvis gerne bei ihr. Wenn er sich morgens, meist gleichzeitig mit ihr, auf den Weg macht und sie sich vor der Haustür verabschieden, hat er es eilig, zu ihr zu kommen, besonders zieht es ihn zu dem Hund, von dem er viel erzählt. Sie hat schon überlegt, ob sie ihm nicht doch einen eigenen schenken könnte, angeblich gibt es Rassen, die nicht bis kaum haaren, also auch für Allergiker wie sie geeignet sind. Sie muss sich mal schlaumachen, nimmt sie sich vor. Eine grössere Freude könnte sie Elvis nicht machen.
Sina hat den Eindruck, dass Ellen ihren Sohn wirklich gut betreut und nicht nur die Zeit mit ihm totschlägt. Am Montag haben die beiden einen Ausflug in den Englischen Garten gemacht, samt Picknick und Hund natürlich, sie waren bis zum Nachmittag unterwegs. Am Dienstag waren sie im Deutschen Museum, in der Bergwerk-Abteilung, Elvis fand es «toll, aber bisschen gruselig».
Am gestrigen Mittwoch hat er unter Ellens Anleitung einen Marmorkuchen gebacken, stolz hat er ihn abends mitgebracht, sie haben ihn zum Nachtisch gegessen, er war wirklich gut. Und heute sind sie in die Bücherei gegangen, Elvis hat sich drei Bücher ausgesucht, eins davon liest Ellen ihm vor, «Der Wind in den Weiden». Natürlich könnte Elvis selbst lesen, aber so findet er es gemütlicher. Sina ist froh für ihn und Ellen dankbar, aber sie spürt auch jedes Mal einen kleinen Stich der Eifersucht, wenn er abends von seinem Tag erzählt. All das, was Ellen mit ihm macht, müsste eigentlich sie tun. Sie müsste mit ihrem Sohn spannende und lustige Sachen unternehmen, er sollte sich auf die Zeit mit ihr freuen, anderen begeistert davon erzählen.
Immer wieder nimmt sie es sich vor, aber die Wochenenden sind so kurz, falls sie überhaupt frei sind. Sie muss einkaufen und die Wäsche machen, es soll etwas Besonderes zu essen geben, sie will mit Torsten mal ausgehen, was bedeutet, dass sie am nächsten Tag ausschlafen möchte, und dann ist schon wieder der Sonntag da. Und spätestens am Nachmittag ist in ihr drin schon wieder Montag. Was ist morgen in der Agentur los, braucht Elvis in der kommenden Woche irgendwas Besonderes, sind seine Sportsachen gewaschen und hat sie den Zettel für den Schulausflug schon unterschrieben. Sie ahnt, sie wird eines Tages todtraurig auf diese Phase ihres Lebens zurückblicken, weil sie so viel verpasst hat. Weil sie diesem Kind so wenig Zeit und Energie und Geduld und Hingabe gegeben hat.
Sie wird bis morgen Mittag warten, ob Katja zurückruft, dann erst wird sie Ellen fragen. Sie wird dafür all ihren Mut zusammennehmen müssen, schliesslich haben sie die klare Vereinbarung, dass die Wochenenden für Ellen frei sind. Und was macht sie, wenn Ellen ablehnt? Weil sie selbst etwas vorhat oder Elvis ihr zu viel wird?
Sina legt das Handy weg, als sie die Wohnungstür hört und Torstens fröhliches «Hallo». Sein Schlüssel fällt klirrend auf die Kommode, dann begrüsst er Elvis, sie kann nicht verstehen, was er sagt.
Sie steht auf und geht in den Flur, wo er gerade seine Sporttasche abstellt. Er trägt noch kurze Hosen und ein verschwitztes T-Shirt, er war nach der Arbeit Squash spielen, zum ersten Mal. In seiner Abteilung gibt es eine Gruppe, gleich am zweiten Tag wurde er eingeladen mitzumachen.
«Na, du Champion, wie war’s?» Sie geht auf ihn zu, um ihn zu küssen, aber er hebt gespielt entsetzt die Hände. «Falls du nicht tot umfallen willst, komm mir lieber nicht zu nah, ich muss erst unter die Dusche.» Er grinst sie schief an.
An den letzten drei Abenden hat er zwar zufrieden, aber auch erschöpft gewirkt, wenn er nach Hause kam, nach der langen Arbeitslosigkeit muss er sich erst wieder an Acht-Stunden-Tage gewöhnen, und er steht den ganzen Tag unter Hochspannung, weil er auf keinen Fall einen Fehler machen will; der Bereich, für den er eingeteilt ist, ist neu für ihn. Wenn sie nach dem Essen noch einen Film sehen, schläft er ein. Und am Morgen ist er so nervös, dass er keinen Bissen herunterbringt, obwohl er schon eine Stunde joggen war, er trinkt nur einen Becher Kaffee und bricht viel zu früh auf, nur nicht zu spät kommen gleich am Anfang. Obwohl er mittags in der Kantine isst, macht sie ihm morgens eine kleine Snackbox zurecht, bevor sie das Schulbrot für Elvis herrichtet, mit geschnittenem Obst, ein paar Crackern, einem Schokoriegel. Und sie versteckt ganz unten einen Zettel mit einem liebevollen Gruss, «Hab einen schönen Tag, Ich freu mich auf Dich heute Abend,» er soll wissen, dass sie an ihn denkt. Wenn er ihr die leere Dose zurückgibt, sagt er ihr immer, wie sehr er sich über ihre Nachricht gefreut hat.
«Hat’s Spass gemacht?»
Er streift die Sportschuhe ab, ohne die Senkel aufzuschnüren. «War anstrengend, aber ich konnte gut mithalten. Der Baumann spielt ziemlich mies, trotz seiner Sprüche.» Baumann ist der Kollege, mit dem er sich das Büro teilt, Torsten hat sich auf An-hieb mit ihm verstanden.
«Das heißt, du gehst jetzt öfter hin?»
«Ja, jeden Donnerstag.» Er bückt sich, greift nach seinen Schuhen, schnuppert kurz daran und verzieht das Gesicht. «Die sollte ich mal gründlich auslüften. Und wie war dein Tag?» Er wendet sich schon der Badezimmertür zu.
«Schon wieder totaler Stress. Und das Schlimmste: Ich muss am Samstag arbeiten.»
«Scheisse.» Torsten hebt die Füsse und zieht die Socken aus. «Und du kannst dich nicht drücken?»
«Ich hab’s echt versucht, aber H. C. ist stur ge- blieben. Was mach ich jetzt bloss mit Elvis? Du bist ja auch nicht da.»
«Ach, hab ich dir noch gar nicht erzählt. Das Kreativ-Wochenende ist verschoben worden.»
«Wieso das denn?»
«Irgendwelche Probleme mit dem Hotel. Wir fahren wahrscheinlich erst im Oktober. Ich bin also hier.»
«Das heisst, du könntest dich um ihn kümmern? Falls ich keine andere Möglichkeit finde?» Es wäre das erste Mal, dass Torsten und Elvis einen ganzen Tag allein miteinander verbringen.
«Klar. Mach ich gerne.»
«Und du bist nicht zu gestresst von der ersten Woche?»
Er lacht. «Ich arbeite ja nicht in einem Bergwerk. Mach dir um mich keine Sorgen. Das Wetter soll super bleiben, ich kann mit ihm irgendwas Schönes unternehmen. Was Männliches, verstehst du? Bei dem du sowieso nur stören würdest.»
Er grinst und verschwindet im Bad, die Socken in der Hand. Sie hört, wie er die Dusche anstellt und zu pfeifen beginnt. Der Sport scheint ihm gutgetan zu haben. Sina bückt sich, schnürt die Senkel seiner Sportschuhe auf und trägt sie auf den Balkon. Ihre Erschöpfung und die schlechte Laune von vorhin sind wie durch ein Wunder verflogen, sie fühlt grosse Zuversicht. Wieder hat sich ein Problem ohne ihr Zutun gelöst, alles wird sich fügen. Sie wird am Samstag entspannt arbeiten in dem Wissen, dass Elvis gut aufgehoben ist, sie muss kein schlechtes Gewissen haben, den Ausflug zu dritt holen sie irgendwann nach.
Ein gemeinsam verbrachter Tag wird Torsten und Elvis noch enger zusammenbringen, ihre Beziehung vertiefen. Ihr Sohn braucht ein väterliches Vorbild, an dem er sich orientieren kann, und Torsten wird ihm andere, bessere Werte vermitteln, als David es tut mit seinem Protzschlitten und seinem Machogehabe.
Für Torsten wiederum, der seine Söhne schmerzlich vermisst, kann das Zusammensein mit Elvis, seine Zuneigung und sein Vertrauen ein Trost sein. Und sie selbst kann darauf vertrauen, ihre kleinen und grossen Probleme nicht mehr alleine lösen zu müssen. Sie hat jemanden an der Seite, auf den sie sich verlassen und stützen kann. Der sie liebt und alles tut, um ihr zu helfen. Und mit dem zusammen sie alle Schwierigkeiten bewältigen kann, die sich ihr in den Weg stellen.
Was bisher geschah:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Martina Borger
Wurde 1956 geboren und arbeitete als Journalistin, Dramaturgin und Filmkritikerin, bevor sie sich aufs Drehbuchschreiben verlegte. Sie hat bei mehreren Serien als Storylinerin und Chef-Autorin gearbeitet. Gemeinsam mit Maria Elisabeth Straub veröffentlichte sie 2001 ihren ersten Roman «Katzenzungen», dem «Kleine Schwester» (2002), «Im Gehege» (2004) und «Sommer mit Emma» (2009) folgten. Ohne Co-Autorin erschien 2007 ihr Roman «Lieber Luca». Martina Borger lebt in München.
Martina Borger, «Wir holen alles nach», Roman, Diogenes
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 Diogenes Verlag AG, Zürich, www.diogenes.ch
120 / 20 / 44 / 1; ISBN 978 3 257 07130 6