Ode an die Liebe des Lebens
Der amerikanische Autor Paul Auster ist am 30. April 2024 verstorben. Sein letzter Roman bleibt eine Liebesgeschichte. Darin beschreibt ein 70-jähriger Autor seine verstorbene Frau so liebevoll und nuanciert, dass sein Verlust spürbar wird. «Baumgartner» ist trotzdem oft auch: heiter und witzig.
Text: Fabian Rottmeier
Es gibt Romanfiguren, die man als Leserin oder Leser sofort ins Herz schliesst: Seymour Baumgartner gehört dazu. Er nennt sich lieber Sy, weil er seinen Vornamen absolut schrecklich findet. Wir stolpern bei der Lektüre sozusagen mit ihm in den neusten Roman des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster rein. Wie Auster ist auch seine titelgebende Romanfigur «Baumgartner» ein bekannter Schriftsteller. Zusätzlich war er aber auch Universitätsprofessor in Princeton und hat auch «kürzere Arbeiten zu philosophischen, ästhetischen und politischen Fragen» veröffentlicht.
Man liest also mit, wie der 70-jährige eines Morgens von einem Missgeschick ins nächste stolpert, sich ärgert («Verdammt. Die einen lassen einen hier nicht mal zum Denken kommen»), bis er schliesslich mit einer verbrannten Hand auch noch die Treppe zum Keller runterstürzt. Zum Glück ist da schon jemand bei ihm, der ihm aufhelfen kann: Ein netter, junger Mann, der doch bloss die Ziffer an der Stromzähleranzeige aufnehmen muss.
Am Anfang war … ein Aluminiumtopf
Sich auf dem Sofa auskurierend, blickt Sy Baumgartner auf den Aluminiumtopf am Boden, der zu seiner versengten Hand geführt hat, und landet mit seinen Gedanken unweigerlich wieder bei seiner Frau Anna. Er blickt in «die ferne Vergangenheit, die am Aussenrand seiner Erinnerung flimmert», wie es Paul Auster umschreibt. Denn damals, an jenem wegweisenden Tag, fand Sy Baumgartner im Gebrauchtwarenladen nicht nur den Topf, sondern auch seine zukünftige Frau. Vor zehn Jahren ist ihr eine Welle beim Sprung ins Meer zum Verhängnis geworden. Sie starb. Paul Auster schreibt: «Leben heisst Schmerz empfinden, sagte er sich, und in Angst vor Schmerz zu leben, heisst das Leben verweigern.» Sy Baumgartner nennt den Schmerz, den seine Frau hinterlassen hat, das Phantommensch-Syndrom.
Der Blick auf den Aluminiumtopf läutet die erste von vielen Episoden ein, auf die Sy Baumgartner in der Folge zurückblickt. Mit jeder erzählten Erinnerung wird das Bild von Anna Blume, so der Name seiner Frau, schärfer und tiefer. Und weil sie nicht nur eine gute Übersetzerin und Lektorin war, sondern auch eine talentierte Autorin, liest man auch Erinnerungen aus ihrem Blickwinkel. Die Schreibmaschine, die sie dazu benutzte, steht immer noch in ihrem Haus. Sy Baumgartner klapperte die ersten Monate nach ihrem Tod immer wieder darauf herum, bloss, um ihn wieder zu hören, «den Klang ihrer Gedanken», wie er es nennt. Es war eine Zeit, als er auch noch ihre Kleider immer wieder neu faltete – oder ihr lüsterne Briefe schrieb, die er tatsächlich auch an ihre Adresse (und somit sich selbst) verschickte.
Trauern, ohne weinerlich zu sein
Kann man der Liebe seines Lebens nachtrauern, ohne dass es weinerlich wird? Sy Baumgartner gelingt es. Respektive Paul Auster. Dass im letzten Werk des gefeierten Schriftstellers ein älterer Autor über das Leben und seine grosse Liebe sinniert, hat nicht nur inhaltlich biografische Züge. Paul Auster erkrankte im Frühjahr 2023 an Krebs – und ist am 30. April 2024 im Alter von 77 Jahren verstorben. Die Erkrankung erklärt, weshalb sein letztes Werk mit 200 Seiten eher kurz ausgefallen ist. Seine Frau Siri Hustvedt, ebenfalls Autorin, hatte im August 2023 auf Instagram noch mit Galgenhumor bekannt gegeben, sie hätten das Schild «Sie verlassen Krebsland» noch nicht passiert. Heute wissen wir: Es sollte leider nie mehr dazu kommen.
Man kann «Baumgartner» also auch als Ode auf Austers zweite Frau Siri Hustvedt verstehen – und unbedingt auch als ein Hoch auf das Leben. Denn schliesslich räumt Sy Baumgartner neben seiner Frau auch auf seine Eltern und Grosseltern Platz ein, indem er auch ihre Geschichten erzählt, nicht minder liebevoll und detailliert. Paul Auster tut dies alles mit oft sehr langen Sätzen, doch sie sind derart gut geschrieben, dass er damit einen willkommenen Lesesog entwickelt.
Und nicht zu guter Letzt ist das Buch durchzogen von humorvollen Stellen und viel Selbstironie. Eine von Seymours Alltagsfreuden etwa besteht darin, sich Bücher ins Haus zu bestellen, die er gar nicht braucht und auch nie lesen wird. Bloss, damit er die UPS-Botin Molly sieht, in die er sich heimlich ein bisschen verknallt hat. Witzig auch, wie er in einer fantasievollen Spinnerei beschreibt, dass sein Weg als Autor früh vorbestimmt war: «Ich war gerade siebzehn geworden, als der oberste Richter des Northern District mir sein Urteil und das Strafmass verkündete: lebenslänglich Sätze machen.» Und fast am Ende des Buches, das, so viel sei verraten, versöhnlich endet, ist sich der mittlerweile 72-Jährige sicher, welches Zeichen im Alter bei Männern der Anfang vom Ende bedeutet: ein offen stehender Hosenstall. Schon oft hat er den Zerfall anderer daran messen müssen. Jetzt ist es auch ihm vier Mal passiert in den letzten zwei Wochen!
Paul Auster: «Baumgartner», Rowohlt Verlag, Hamburg, rowohlt.de, CHF ca. 30.–