Mythen im Busch
Der Schwarze Holunder trägt die ersten Beeren und signalisiert: Nun ist endlich Sommer. Einst dichtete man dem Busch allerlei Legenden an. Auch unser Gartenpöstler glaubte an dessen Magie – und tut es noch immer.
Text: Roland Grüter
Der Holunderbusch begleitet mich seit jeher durchs Leben. In den Dörfern des Mittellands, in denen ich aufwuchs, wächst der Strauch fast an jeder Ecke. Denn durch seine Vorliebe für nährstoffreiche und stickstoffhaltige Böden sucht er die Nähe der Menschen. Weniger poetisch ausgedrückt: Der mächtige Strauch ist überall dort anzutreffen, wo Böden überdüngt sind – und ist damit auch auf Bauernhöfen, insbesondere vor Miststöcken, ein oft gesehener Gast.
Das Gehölz faszinierte mich schon als Knirps, was rückblickend nicht selbstverständlich ist. Denn genau genommen hat der Holderbusch Kindern wenig zu bieten. Seine Früchte müssen erst verkocht werden, bevor man sie essen kann. Also überliessen Goofen meiner Generation die blauen Beeren den 62 Vogelarten und den vielen Insekten, die sich daran sattessen, und zogen achtlos an seinen prall behangenen Ästen vorbei – hin zu den Kirschbäumen oder den Erdbeerfeldern der Bauern.
Sand zwischen den Zähnen
Nicht einmal die Konfi, die meine Mutter im Herbst daraus zubereitete, mochte ich sonderlich. Sie war zwar süss, enthielt aber leider unendlich viele Kerne. Schon beim ersten Bissen ins Konfibrot knirschte es, als sei Sand zwischen die Zähne geraten. Das schmälerte meinen Appetit empfindlich und der Blick in den Spiegel verdarb ihn mir endgültig: Denn die Zähne und Lippen blieben selbst dann noch violett-schwarz, wenn wir den letzten Brotmocken mit Wasser heruntergespült hatten. Gegen die Farbkraft der Beeren konnte Wasser nichts ausrichten. Deshalb wurde sie einst für die Färbung von Haaren, Stoffen und Speisen genutzt.
Nein, die Liebe zum Holunder ging nicht durch den Magen. Doch der Strauch hatte etwas, was den allermeisten anderen Fruchtgehölzen fehlt: Magie. Man flüsterte sich allerlei Legenden über den Holunder zu. Die Menschen glaubten, dass er Hof und Mensch vor Blitz und Donner bewahren kann. Und dass in seinem Blättergewirr Hexen und Geister wohnen, was für Kinder meiner Generation kein bisschen erstaunlich war: Der (Aber-)Glauben war in den 1960ern noch weit verbreitet. Wir mussten nicht eigens nach Hogwarts reisen, in die Zauberschule von Harry Potter, wollten wir Hexen, Zauberer und Kobolde sehen. Wir mussten dafür nur die Haustüre öffnen. Sie waren überall: im Holunder, im Wald, auf dem Estrich. Zwar nahm ich die Geschichten, die davon erzählten, nicht sonderlich ernst – sie zu ignorieren, traute ich mich aber dann doch nicht. «Schneide ja nie einen Holunderast ab, sonst droht dir Böses!», hatte mich einst das kurlige Fräulein Erna aus der Nachbarschaft angemahnt. Also liess ich das Messer vorsorglich stecken und schnitzte meine Pfeile stattdessen lieber aus anderem Holz. Sicher ist sicher.
Wohnsitz von Frau Holle
Spätestens als mir in der Schule die Herkunft von Frau Holle genauer erklärt wurde, wusste ich: An den Mutmassungen über den Holunder muss etwas dran sein. Unser Lehrer erklärte uns, wie die Gebrüder Grimm auf ihr Märchen kamen. Die alte Dame, die für Winter und Schnee zuständig ist, geht offenbar auf eine germanische Mutter- und Baumgöttin zurück. Die Menschen nannten Frau Holle auch Holda/Hulda oder Berht/Percht. Die Göttin beschützte Pflanzen, Tiere, Haus, Hof, Mensch und Vieh einst vor dunklen Mächten. Sie war sozusagen die «Super-Woman» der germanischen Mythologie und konnte mit ihren übersinnlichen Kräften Feuer, böse Geister, Blitzschlag oder schwarze Magie bändigen. Überdies herrschte sie über das Wetter und beschied dadurch, ob die Ernten der Bauern gut oder mager ausfielen – und damit auch über deren Glück.
Vor Urzeiten glaubte man, dass Frau Holle ebenfalls im Astgewirr des Holunders lebt, und dass sie ihre Macht auf ihren Wohnsitz übertragen kann. Deshalb ehrte man den Holunderbusch. Aus dessen Holz wurden die Riegel für Ställe geschnitzt, und junge Frauen nutzen den Busch auch als Liebesorakel. In manchen Alpenregionen, das habe ich unlängst im Buch «Symbolik der Pflanzen» gelesen, zog man sogar den Hut vor dem Holunder, schritt man an ihm vorbei.
Gut zu wissen
Durch archäobotanische Untersuchungen wissen wir, dass der Schwarze Holunder schon in der Jungsteinzeit in Europa eine wichtige und oft genutzte Pflanze war. Aus gutem Grund: Er wächst fast überall, vom Tiefland bis in etwa 1600 m Höhe – sowohl in der Sonne als auch im Halbschatten. Das Gehölz ist erstaunlich anspruchslos und kann eine Höhe von 11 m erreichen. Von Mai bis in den Juli trägt er doldenartige Blüten, ab September schwarz glänzende Steinfrüchte. Diese geben insgesamt 62 Vogel- und acht Säugetierarten Nahrung. Die ausladende Kronenform des Busches wird zudem von Vögeln gern als Nistplatz genutzt.
Schon bei den Kelten und Germanen galt der Holunder als heiliger Baum, da er die Unendlichkeit des Lebens verkörperte. Germanische Stämme begruben ihre Toten unter Hollerbüschen. Der Name leitet sich von «Holda» ab, der Muttergöttin in der germanischen Mythologie ab. Auch in der Bibel sind Hinweise auf den Holler zu finden. So wurden die Krippe des Jesuskindes und auch später das Kreuz Christi aus Holler gefertigt. Überdies soll Judas sich an einem Holderbusch erhängt haben. An die Tragödie erinnert noch heute der Duft der Blätter.
Früher pflanzte man den Holunderstrauch zum Schutz gegen böse Geister und gegen Blitzschlag in die Gärten. Ausserdem werden dessen Früchte und Blätter seit jeher in der Naturheilkunde genutzt – der daraus gewonnene Saft enthält tatsächlich viel Vitamin C. Die grünen Pflanzenteile kamen ausschliesslich in äusseren Anwendungen zum Einsatz, etwa als Wickel. Denn sie enthalten den Stoff Sambunigrin und sind damit giftig. Durch Erhitzung wird dieses Gift zerstört. Daraus bereitete Konfi, Sirupe oder Küchlein sind bedenkenlos geniessbar. Und ein Leckerbissen.
Frau Holle hatte also ein mildes Wesen. Verstiess man jedoch gegen ihre Regeln, wurde sie fuchsteufelswild und zur ungnädigen Rächerin. Deshalb war der Volksmund überzeugt: Wer es wagt, einen Holunderbusch auszuhacken oder zu fällen, dem droht Schlimmes. Und damit auch der Familie, ja dem ganzen Dorf. Darauf verweist noch immer eine uralte Bauernweisheit. Diese besagt: Willst du aus dem Leben scheiden, tue den Holunder schneiden. Vielerots war es unter Androhung grober Strafen verboten, Hand an dessen Geäst zu legen.
Uralte Geschichten. Heute verbinde ich mit knorrigen Gesellen andere, handfestere Fakten. Die Blüten des Schwarzen Holunders signalisieren im phänologischen Kalender, der zehn Jahreszeiten kennt und sich auf Beobachtungen der Natur ausrichtet, den Anfang des Frühsommers. Sie läuten damit jene Zeit ein, in denen ich mit dem Holunder besonders eng verbandelt bin. Denn mittlerweile weiss ich, dass man aus seinen frisch-fruchtig duftenden Rispenblüten durchaus Köstlichkeiten bereiten kann, einen feinen Sirup oder wunderbare Küchlein etwa. Und spätestens, wenn ich vor einem Hugo sitze, dem Sommer-Cocktail mit Holundersirup, Pfefferminze und Prosecco, erinnere ich mich an die Legenden und komme zum Schluss: Der Holunder kann tatsächlich kleine Wunder bewirken. Ein Prosit auf Frau Holle!
Der Gartenpöstler
Roland Grüter (62) ist leidenschaftlicher Hobbygärtner und folgt strikt den Regeln des Bio-Gärtnerns. Heute lebt er in der Nähe von Zürich und hegt und pflegt einen kunterbunten, wilden Blumengarten. Roland Grüter schreibt an dieser Stelle regelmässig über seinen Spass und seine Spleens im grünen Bereich.
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