Ruths Vermächtnis
Unser Kolumnist hasst Weihnachtskakteen. Trotzdem ist er mit dem Winterblüher ganz besonders verwachsen – bis in alle Ewigkeit.
Weihnachten ist vorbei. Doch der Kaktus, der diesen Namen trägt, steht noch immer auf dem Schrank im Gästezimmer. Er ist neuerlich mit weissen Blüten besetzt. Die Knospen öffnen sich jeweils erst dann, wenn das Halleluja verklungen ist, die Krippe zu Bethlehem wieder leer steht und die Heiligen Drei Könige auf ihrer Rückreise gegen Westen ein gutes Stück vorangekommen sind. Denn die Pflanze verweigert sich beharrlich Weihnachten und wartet stattdessen das Knallen der Silvesterkorken ab, bevor sie ihr blühendes Wunder zündet. Weshalb ich das Gewächs Knallkaktus nenne. Sturkopf wäre ebenso passend, denn die Vertreterin der Gattung Schlumbergera hat über die Jahre reichlich Eigensinn bewiesen. Das macht sie zwar nicht schöner, aber etwas sympathischer.
Fieses Geschenk
Sie müssen wissen: Unsere Beziehung stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Denn genau genommen mag ich keine Zimmerpflanzen ‒ und Weihnachtskakteen schon gar nicht. Zu spiessig, zu verstaubt, zu hässlich. Von diesem Widerwillen wusste leider auch meine Schwiegermutter Ruth. Weshalb sie mir vor gut zehn Jahren eines dieser Gewächse schenkte ‒ mit süssem Lächeln und bösem Hintersinn, was durchaus zu unserer Beziehung passte.
Ruth war eine kluge, besonnene, hochgeschätzte Frau. Sie kümmerte sich gerne um ihre Mitmenschen und hatte für jede und jeden einen Rat parat, auch wenn man sie nicht explizit danach fragte. Einzig den Partnerinnen und Partnern ihrer vier Kinder zeigte sie die kalte Schulter. Ruth sah es nicht gerne, dass wir einen Platz an der Seite ihrer Liebsten beanspruchen und blendete uns deshalb geflissentlich aus. Was mir ausgesprochen recht war, denn die anfänglichen Bemühungen, uns anzunähern, bewirkten das Gegenteil und endeten in einem Fiasko. Also hielten wir uns in der Folge über ein gutes Jahrzehnt auf Distanz. Nur dann und wann lieferten wir uns Techtelmechtel, der Rest war Schweigen.
Unter diesen Vorzeichen fand der Weihnachtskaktus zu mir. Anfangs war er mickrig klein, also etwa gleich gross wie meine Freude an dem Präsent. Nach seinem Zuzug gab ich mir redlich Mühe, die Liaison kurz zu halten. Ich stellte den grünen Winzling in die dunkelste Ecke, geizte mit Wasser und noch mehr mit Liebe. Doch der Pflanze war das egal. Sie wuchs und wuchs und ertrug duldsam sämtliche Fiesheiten. Und vor ein paar Jahren trug sie im Januar erstmals ihr weisses Blütenkleid. Andere hätten das ungeliebte Grün längst entsorgt. Aber meine Gene verbieten es mir, lebende Pflanzen wegzuwerfen. Und auch der Geschenkmodus kommt für mich nicht in Frage: Denn ich schenke anderen ausschliesslich Dinge, die mir selber gefallen. Auch davon wusste Ruth, was ihr Präsent rückblickend zur doppelt fiesen Bosheit macht.
Hilfe aus dem Jenseits
Kurzum, der Kaktus und ich sind unselig verbunden. Die Pflanze ist mittlerweile beeindruckend gross und beansprucht reichlich Platz. Was es noch schwerer macht, sie zu übersehen. Kaum schlappen ihre stark gegliederten Blätter, zuckt mein grüner Daumen und drängt mich zum Wasserhahn. Der Kaktus will einfach nicht serbeln, seine Lebenskraft scheint grenzenlos. Ich vermute, dass ihn Ruth mit einem Zauber belegt hat. Dieser wirkt noch immer, obwohl es Ruth schon lange nicht mehr gibt. Wahrscheinlich sitzt sie nun auf ihrem Himmelsthron und flüstert der Pflanze, kaum lege ich mich schlafen, süsse Worte zu, damit sie neue Kräfte mobilisiert. Gegen diese Macht lässt sich nichts ausrichten. Als Zweifler vor dem Herrn stehe ich auf verlorenem Posten, was das Jenseits anbelangt.
Nun blüht der Weihnachtskaktus also aufs Neue. Aus den vielen Blüten ragen jeweils zwei rote, fädige Staubblätter hervor, als wolle mir das Grün tausend Zünglein zeigen. Viele Freundinnen und Freunde bewundern die Blütenpracht und fragen mich nach dem Geheimnis, das dahinter wirkt. Ruth hat sich mit ihrem Präsent unsterblich gemacht. Das mag ich ihr gönnen.
Der Gartenpöstler
Roland Grüter (61) ist leidenschaftlicher Hobbygärtner und folgt strikt den Regeln des Bio-Gärtnerns. Heute lebt er in der Nähe von Zürich und hegt und pflegt einen kunterbunten, wilden Blumengarten. Roland Grüter schreibt an dieser Stelle regelmässig über seinen Spass und seine Spleens im grünen Bereich.
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