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Steinböcke – Könige der Alpen

Steinböcke symbolisieren wie kein anderes Tier Ausdauer und Zähigkeit. Tatsächlich leben die Hochgebirgsbewohner weiter oben am Berg als viele andere Tiere, was ihnen besondere Anpassungen ans Leben unter extremen ­Bedingungen abverlangt.

Text: Esther Wullschleger Schättin

Nur wenige Meter neben dem Wanderweg ruhen und weiden Steinböcke. Es ist eine Gruppe stattlicher Böcke, die es sich, auf der Schutthalde verteilt, gemütlich gemacht hat. Einer fegt mit seinen im­posanten Hörnern eine Kratzdistel weg, um die stacheligen Blätter danach vorsichtig zu verzehren. Ein anderer setzt sein Horn dazu ein, sich genüsslich weiter hinten am Körper zu kratzen.

Die Tiere lassen sich durch die Wandergruppe, die zu dieser frühen Stunde auf dem Rotsteinpass unterwegs ist, nicht aus der Ruhe bringen. Wie anderswo in den Schweizer Alpen, wo sie heute wieder vorkommen, sind die Steinböcke im Alpsteingebiet nahe dem Säntis den Ausflüglern ein gewohnter, wenn auch herrlicher Anblick.

Während sich ältere Böcke mit ihren beeindruckenden Hörnern und jüngere Böcke mit noch kleineren Hörnern öfter in der Nähe von Wanderwegen zeigen, braucht es mehr Glück, Steingeissen zu sehen. Diese halten sich im Sommerhalbjahr in separaten Rudeln auf, zusammen mit ihren Kitzen und mit Halbwüchsigen. Dabei wagen sie sich weniger auf offenes Gelände vor und bevorzugen meist unzugängliche, zerklüftete Gebiete abseits viel begangener Pfade.

Steinbockfamilie in steilem Gelände am Niederhorn im Berner Oberland.
Geiss und Jungtiere am Niederhorn im Berner Oberland. © shutterstock

Werden sie doch einmal von Wanderern überrascht, ziehen sich die vorsichtigen Geissen in steilere Felspartien zurück – gefolgt von den Kleinen. Diese erweisen sich schon früh als wahre Kletterkünstler und tollen oft in waghalsigen Sprüngen herum. Ihre ersten Lebenstage nach der Geburt im Juni haben sie in schwer zugänglichen Felsnischen verlebt, bestmöglich geschützt vor Adler und Fuchs.

Es ist erstaunlich, mit welchem Geschick sich junge wie ältere Steinböcke noch im steilsten Gelände fortbewegen. Zur Verblüffung vieler Tierfreunde wurde vor einiger Zeit berichtet, dass Steinböcke ohne Weiteres auf der fast senkrechten Staumauer des norditalienischen Cingino-Stausees im Valle Antrona herumklettern. Die waghalsigen Tiere finden auf der Staumauer Mineralien und Pflanzennahrung, die ihnen an dieser Lage kein Konkurrent streitig macht. Es sind aber vor allem Geissen und jüngere Tiere, die sich auf die steile Wand vorwagen.

Der Körperbau der Steinböcke wirkt relativ gedrungen, doch ist er optimal an das Leben im felsigen Berggelände angepasst. Ihre Trittsicherheit beim Klettern ist äusserst ausgeprägt. Der scharfkantige Aussenrand der Hufe ist hart und findet an den kleinsten Unebenheiten Halt, während sich das weiche Hufinnere an die Trittfläche anschmiegt und die Stösse abfedert. Eine kräftige Muskulatur und elastische Sehnen verleihen den Tieren enorme Sprungkraft. Und ihr Körperschwerpunkt liegt dank den kurzen Beinen tief, was es erleichtert, das Gleichgewicht zu halten.

Als Überlebenskünstler im Hochgebirge überdauern Steinböcke auch den Winter in grosser Höhe. Dabei sind sie monatelang extremer Kälte, Schneemassen, eisigem Wind und Nahrungsknappheit ausgesetzt. Fettreserven, die sie sich im Lauf des Sommers anfressen, und ein dichtes, langes Winterfell helfen ihnen, unter den extremen Bedingungen mit der wenigen verfügbaren Nahrung durchzukommen. Das Winterfell ist etwas dunkler als das Sommerfell und nimmt dadurch an der Sonne mehr Wärmestrahlung auf. Zudem suchen die Steinböcke im Winter bevorzugt tiefere, steile und südexponierte Hanglagen auf, die gut besonnt werden und wenig Schnee halten.

Wie eine Studie gezeigt hat, verringern Steinböcke ihre Bewegungs- und Stoffwechselaktivitäten im Winter, was den Nahrungsbedarf beträchtlich senkt. Die Herzschlagrate sinkt im Vergleich zum Sommer deutlich ab. Interessanterweise fanden die Forscher auch heraus, dass frei lebende Steinböcke nach Möglichkeit ein ausgedehntes Sonnenbad nehmen, um sich am Morgen aufzuwärmen. So brauchen sie ihren Stoffwechsel nicht zum «Heizen» hochzufahren und können sich auf energiesparende Weise wärmen, ähnlich, wie dies Reptilien tun.

Zwar findet die Brunft der Steinböcke mitten im Winter statt, wobei es den grös­seren, dominanten Böcken vorbehalten ist, die Geissen zu decken. Die Böcke haben ihre Rangordnung schon weitgehend vorher geklärt, als sich ihre Rudelverbände im Herbst allmählich auflösten, sodass es während der energieraubenden Zeit kaum mehr zu grösseren Auseinandersetzungen kommt.

Winterruhe ist lebenswichtig

Harte, kalte und schneereiche Winter setzen auch diesen Überlebenskünstlern des Hochgebirges zu und fordern immer wieder Opfer unter den Tieren. Wie andere Wildtiere sind die Steinböcke im Winter auf Ruhezonen angewiesen, wo sich Störungen durch den Menschen in Grenzen halten.

Portrait eines Steinbocks im Winter.
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Die kräftigen Steinböcke in ihrem unwegsamen Lebensraum haben den Menschen wohl seit je beeindruckt und waren seit dem Mittelalter begehrtes Jagdwild. Ihr Fleisch und die Horntrophäen wurden sehr geschätzt. Als besonders fatal erwies sich, dass den Körperteilen des Steinwildes magische Heilkräfte zugeschrieben wurden. Die Tiere wurden buchstäblich vom Horn bis zum Fuss volksmedizinisch verwertet und machten manchen Jäger reich, der seine Beute mit Haut und Haar einem Apotheker verkaufte.

Je seltener die Steinböcke wurden, desto höhere Preise konnte man erzielen, sodass selbst drastische Strafandrohungen die Wilderei kaum einzudämmen vermochten. Die edlen Steinböcke wurden auch lebend gefangen, seit die Errichtung von Wildgehegen im 16. Jahrhundert bei der begüterten adeligen Bevölkerung in Mode kam, wobei solche Fangaktionen keineswegs schonend erfolgten.

Comeback der Ausgestorbenen

So erlosch im Alpenraum ein Steinbockvorkommen nach dem anderen – auch in der Schweiz und trotz schon früh verschärften Schutzbestimmungen. Nur am norditalienischen Gran Paradiso über­lebte eine Kolonie des Alpensteinbocks, im privaten Jagdgebiet des italienischen Königs Vittorio Emanuele II., der seinen Bestand durch 150 Wildhüter streng beaufsichtigen liess. Er lehnte auch das bundesrätliche Ersuchen aus der Schweiz um die Lieferung einiger Steinböcke für eine Wiederansiedelung stets ab.

Um 1906 griff die Schweiz zur Selbsthilfe und holte sich über Schmuggler die ersten Steinbockkitze ins Land. Zusammen mit weiteren, später legal erworbenen Steinböcken begründeten diese «gestohlenen» Tiere den schweizerischen Bestand. Heute leben wieder ungefähr 17’000 Steinböcke in der Schweiz, was als genügend erachtet wird, um streng kontrollierte Jagd zu erlauben. Wie im ganzen Alpenraum sind die ortstreuen Tiere noch in einem Fleckenmuster verbreitet, das die früheren Aussetzungen widerspiegelt. Sie wandern höchstens entlang von Gebirgsketten und meiden es, tiefe Tallagen zu durchqueren. Auch die genetische Ausstattung der heutigen Steinböcke widerspiegelt noch die Geschichte des Beinahe-Aussterbens. Zeitweise auf einige wenige Hundert Tiere beschränkt, zeigen die Steinböcke eine äusserst geringe genetische Vielfalt, was sie anfällig auf Inzuchterscheinungen ­machen könnte.

Beitrag vom 09.08.2023

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