Wildsauen – Meisterinnen der Tarnung
Wildschweine sind in Europa sehr häufig geworden und wagen sich mancherorts bis in Siedlungsgebiete vor. Die scheuen, aber schlauen Schwarzkittel profitieren vom reicheren Nahrungsangebot und milderen Wintern.
Von Esther Wullschleger Schättin
Von allen grösseren Säugetieren, die in der Schweiz vorkommen, ist das Wildschwein sicher eines der heimlichsten. Es geschieht selten, dass man Wildschweinen in freier Natur begegnet, obwohl die Tiere vielerorts häufig geworden sind und auch am Tag umherstreifen. Die Tiere sind äusserst vorsichtig und nehmen den Menschen schon früh wahr. Sie ziehen sich zurück, wenn ihre feine Nase einen verdächtigen Geruch wahrnimmt oder ihr feines Gehör die nahende Person verrät. Oder sie halten in ihren Aktivitäten inne und bleiben still stehen, auf ihre Tarnung im Gebüsch vertrauend, sodass sie von den Spaziergängern möglichst nicht bemerkt werden.
So ist es eher die Jagdstrecke der Jäger, also die Anzahl der pro Jahr von ihnen erlegten Wildschweine, die den bemerkenswerten Anstieg der Population dieser Tiere aufzeigt. Seit den 1980er-Jahren ist die Zahl der Wildschweine in Europa stetig grösser geworden. Sowohl in ländlichen Gebieten als auch in der Nähe von Städten leben deutlich mehr Wildschweine als noch vor wenigen Jahrzehnten. Besonders augenfällig ist die Zunahme der Schwarzkittel in Berlin. Deutschlands Hauptstadt mit den vielen ausgedehnten Grünflächen sei zu einer «Stadt der Wildschweine» geworden, heisst es, in der sich schätzungsweise 5000 bis 6000 der Tiere tummeln.
In einigen Teilen des Berliner Siedlungsgebietes sorgen die schlauen Tiere für erhebliche Schäden, wenn sie in Parks und Gärten nach Nahrung wühlen. Mit ihrem Rüssel brechen sie grossflächige Bereiche des Bodens auf, um an nahrhafte Insektenlarven, Würmer oder auch Mäusenester zu gelangen. Oder sie plündern Obstgärten und graben auf der Suche nach Zwiebeln und Knollen Gemüsebeete um. Zäune sind kaum je ein Hindernis, sie werden oft einfach eingedrückt. Natürlich sorgen die Flurschäden für Klagen. Andererseits stossen die Wildschweine auf Wohlwollen bei tierliebenden Anwohnern, die sich gegen den Abschuss von Problemtieren sträuben.
Manche Leute füttern die städtischen Wildschweine sogar, was streng verboten ist. Gerade ein allzu üppiges Nahrungsangebot hat ja die massiven Bestandeszunahmen begünstigt. Die Schweine sind auch grosse und kräftige Wildtiere. Wenn sie die Scheu vor dem Menschen verlieren, kann es zu gefährlichen Situationen kommen. Fachleute raten, sich Wildschweinen nie zu nähern. Falls es doch zu einer Konfrontation kommt, soll man sich langsam und ruhig zurückziehen, dem Tier stets einen Fluchtweg offen lassend. Hektische Bewegungen können die Wildschweine in Panik versetzen. Die männlichen Keiler erreichen eine Schulterhöhe von über einem Meter und bis zu 150 Kilogramm Gewicht. Bachen sind etwas kleiner, doch sie verteidigen ihre Frischlinge bis zum Äussersten, wenn sie diese bedroht sehen.
Vielseitige Nahrungssuche
Wildschweine leben gesellig in Rotten, wobei die heranwachsenden Keiler den Sozialverband verlassen und ein einzelgängerisches Leben führen. Als erfahrene Leitbache führt ein älteres Weibchen die Rotte an, leitet sie in ihrem ausgedehnten Territorium zu den bewährten Nahrungsstellen, weicht Gefahren aus. Ihre Erfahrung ist für die ganze Gruppe entscheidend. Wildschweine wühlen gerne und viel, wie man es auch von ihren Abkömmlingen, den Hausschweinen, kennt. Auf dem Waldboden stöbern sie nach Eicheln oder Bucheckern, Pilzen, Wurzeln und Knollen. Und ihr Geruchssinn ist so ausgeprägt, dass sie selbst tief vergrabene Leckereien locker aufspüren.
Es ist klar, dass die wühlenden Schweine als ursprüngliche Waldbewohner Europas einen grossen Einfluss auf die Ökologie der Waldböden haben. Sie fördern die Durchmischung der Böden oder brechen Bestände wuchernder Bodenpflanzen auf, sodass auch lichthungrige seltene Pflanzenarten wachsen können. Besonders im Sommer wälzen sich die Wildschweine oft in Suhlen, in schlammigen Wasserlöchern. Das Schlammbad hilft gegen Parasiten und bietet während der heissen Sommerzeit Abkühlung. In der Nähe einer Wildschweinsuhle finden sich stets sogenannte Malbäume, die an ihrem Stammansatz deutliche Scheuerspuren aufweisen. Nach jedem Schlammbad scheuern sich die Tiere ausgiebig an den Baumstämmen, was an diesen im Lauf der Zeit die typischen blank polierten Stellen hinterlässt.
Als Schlafkessel wird eine Mulde ausgescharrt, welche die Schweine mit Grasmaterial und Zweigen auspolstern. Trächtige Bachen, die bald Junge zur Welt bringen, bauen einen grösseren Wurfkessel. Darin verbringen dann die vier bis sechs Frischlinge ihre ersten Lebenstage gut geschützt vor Kälte, Wind und Regen. Schon nach wenigen Tagen nimmt die Mutter ihre Schar zu ersten Ausflügen mit. Bis zum Alter von etwa vier Monaten tragen die Frischlinge ihr längs gestreiftes Erstlingskleid, das sie im Unterholz gut tarnt. Dann verblasst es allmählich, und die jungen Schweinchen tragen eine rotbraune Zwischenfärbung, bis sie mit etwa einem Jahr ins Erwachsenenkleid wechseln.
Die Schlauheit der Wildschweine ist fast legendär. Die ergiebigen Nahrungsquellen merken sie sich für Jahre und kehren auch mit schöner Regelmässigkeitdorthin zurück. Manche Stadtschweine haben offenbar sogar gelernt,
Schliessvorrichtungen an Gartentoren aufzudrücken, damit sich das Tor öffnet. Ein Forschungsprojekt war mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich kaum ein Tier in die ausgeklügelt gestellten Lebendfallen wagte. Natürlich erkennen Wildschweine den Unterschied zwischen harmlosen Spaziergängern und pirschenden Jägern sehr genau. Und Stellen in ihrem Streifgebiet, die sie einmal als gefährlich erkannt haben, werden von da an gemieden.
Wildsauen habens gerne warm
Vor einiger Zeit fanden Forscher mehr zu den Umwelteinflüssen heraus, die den Aufwärtstrend der Wildschweinpopulation in Europa mitverursacht haben. Als eine Folge der Klimaerwärmung bleiben die Winter immer öfter milde, was die Wildschweine begünstigt. In harten Wintern, wenn sie bei gefrorenem Boden zu wenig Nahrung finden, sterben mehr Jungschweine und geschwächte Tiere.Die ausgewachsenen Wildschweine tragen ein Winterfell mit bis zu 20 Zentimeter langen Borsten und einer dichten Unterwolle, das sie ausgezeichnet vor der Kälte schützt.
Auch das Nahrungsangebot hat sich für die Wildschweine immer üppiger entwickelt, wodurch die Bachen fruchtbarer werden und mehr Junge zur Welt bringen. In den letzten Jahrzehnten kam es immer häufiger zu sogenannten Mastjahren, in denen Eichen und Buchen besonders viele Früchte bilden. Die Eicheln und Bucheckern sind eine wichtige Winternahrung für die Wildschweine. Der Maisanbau hat im Lauf der Jahrzehnte ebenfalls deutlich zugenommen – sehr zum Vorteil der Schwarzkittel. Wirksame Gegenmassnahmen sind notwendig, um die schlauen Tiere von den landwirtschaftlichen Kulturen abzuhalten.