© Gerard Visser

Teil 3: Hirnmetastasen Tagebuch einer Sterbenden

Mir schwant Böses. Woher rühren das plötzliche Unwohlsein, die Durchfallattacken? Der Palliativmediziner des Kantonsspitals Olten macht sich auf die Suche nach der Ursache. Nach diversen Untersuchungen lässt er einen Hirnscan machen. Als die Resultate vorliegen, bereite ich mich gut auf das Gespräch vor. Ich erinnere mich daran, als ich vor etwas mehr als einem Jahr die Diagnose Brustkrebs erhielt. Damals riet mir meine Frauenärztin, im Internet nicht nach meiner Krankheit zu schauen. Das könne verunsichern. Also liess ich es sein und machte alle Hochs und Tiefs durch die Behandlung stoisch mit, vertraute meinen Ärzten.

Morgen nun erfahre ich die Ergebnisse des Tumorboards. Ich halte ich es nicht mehr aus, setze mich doch vor den Computer und tippe «Prognose Hirnmetastasen» ins Suchfeld von Google. Danach rufe ich die Seiten seriöser Fachinstitutionen auf: Krebsliga Schweiz, deutsche Krebsgesellschaft, das Inselspital in Bern. Überall dasselbe Resultat. Prognose Hirnmetastasen? Ein bis zwei Monate nach den ersten Symptomen, falls keine Behandlung erfolgt. Mit Behandlung drei bis sechs Monate. Danach ist man tot.

Ich konfrontiere den Arzt mit meinen Recherchen. Er tut sich merkbar schwer, erklärt, führt aus. Abstreiten kann er aber nicht. Er bestätigt die Suchergebnisse, ergänzt jedoch sofort, dass er Menschen kenne, die selbst nach einem oder sogar nach drei Jahren noch leben. Man wisse nie, wie sich der Krebs entwickelt. «Was soll ich tun? Was empfehlen Sie mir?» – «Nach diesem Befund gibt es nur eine Empfehlung: Bestrahlung – mit dem Ziel, die Metastasen zu verkleinern, den Druck auf das Gehirn und die Auswirkungen davon im Zaum zu halten.» Geduldig erklärt mir der Mann, welche Chancen und Risiken eine Bestrahlung mit sich bringt. 

Ich bin überfordert. Mache ich nichts, ist mein Schicksal besiegelt. Ein bis zwei Monate. Entscheide ich mich zu einer Bestrahlung, verlängert sich mein Leben wohl um ein paar Monate – und all die lästigen Symptome, die mich plagen, verschwinden ganz oder werden zumindest gemindert. Der Krankheitsverlauf verlangsamt sich. Mögliche Nebenwirkungen der Hirnbestrahlung? Haarausfall, Fatigue (Müdigkeit) und/oder kognitive Verhaltensänderungen. Ich benötige zwei weitere Beratungen, bis ich mich entscheiden kann. Also doch die Bestrahlung. Bei mir tauchen alle angekündigten Nebenwirkungen auf.

Ich fühle mich entlastet. Nun kann mich wieder ganz meinem Sterben widmen. 

Für mich ist Lebensqualität weit wichtiger als Lebensverlängerung. Ich will mich ausdrücken und denken können. Ohne Aussicht darauf will ich mein Leben nicht in die Länge ziehen. Bloss kein «Dahinsiechen». Das sage ich auch dem Palliativmediziner von Anfang an. Und verweise ihn auf meine bestehende Patientenverfügung. Sicher ist sicher.

Die Nebenwirkungen setzen mir zu. Ich möchte wieder näher bei meinen Liebsten sein. Also ziehe ich zurück nach Basel, wo ich geboren bin und die längste Zeit meines Lebens gewohnt und gearbeitet habe. Im Basler Claraspital soll die Bestrahlung stattfinden.

Ich bin seit einiger Zeit in meiner Firma «Psyche stärken by bowley resources» tätig, mache Coachings, psychologische Beratungen, biete Seminare an. Sofort überlege ich mir, was ich mit den vielen anstehenden Aufträgen machen soll. Mir kommt eine liebe Freundin und Arbeitskollegin in den Sinn. Sie arbeitet mit der gleichen Methode. 10 Schritte zur psychischen Gesundheit. Ich rufe sie an, und sie ist bereit, sofort zu übernehmen. Unkompliziert und konstruktiv. 

Für die Übergabe bleibt uns eine Woche Zeit. Ein Online-Kurs für betreuende Angehörige steht an. Uff! Den Online-Kurs «Glücks Runde» übernimmt die Freundin ebenfalls. Er ist wie schon etliche Mal zuvor gut gebucht.

Was für ein Glück. Andere müssen jahrelang nach einem passenden Nachfolger suchen, und ich habe in einer Woche eine kompetente, herzensgute Fachfrau zur Hand. Ich fühle mich entlastet. Nun kann ich mich wieder ganz meinem Sterben widmen. 

Der Bestrahlungstermin im Claraspital rückt näher. Zuvor organisiere ich den Umzug von Olten nach Basel. Beim Packen fällt mir ein Papier in die Hand, darauf hatte ich einen Monat vor der Diagnose Hirnmetastasen ein Gedicht notiert. Hatte ich eine Vorahnung? Als ich die Zeilen aufschrieb, schien der Tod noch weit weg. Es war ein Abschiedsgedicht:

Solang ich gekonnt,
hab ich gearbeitet,
hab mich in der Wärme gesonnt,
und Freude verbreitet.

Wird’s Feierabend früher als gedacht,
Dann lass ich das Tagewerk nun,
Das wär ja gelacht,
Ab jetzt werd ich ruh’n.

Michèle Bowley

Das Gedicht begleitet mich seither. Mit meinem Vater passe ich es leicht an und mache es zur Hauptbotschaft meiner Todesanzeige. Mein Vater hätte anfangs lieber eine traditionelle Todesanzeige gehabt, nun folgt er meinen Wünschen.

Die Bestrahlung verlängert meine Überlebenszeit auf drei bis sechs Monate. Damit bricht für mich – nein, nicht eine Welt zusammen –, sondern eine neue Ära an. Keine Zweifel, keine Angst. Enorme Energie durchströmt mich. Einmal noch als «liebevolle Tabubrecherin» Menschen dazu inspirieren, gut für sich zu sorgen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können. Das ist mein Wunsch.

Deshalb schreibe ich auch dieses Tagebuch. Ich möchte Menschen dazu anregen – im Bewusstsein ihrer eigenen Endlichkeit – gut für sich zu sorgen, ihr Potenzial zu entfalten (ungeachtet, was andere von ihnen erwarten oder denken). Damit sie später keine Versäumnisse bereuen müssen und möglichst angstfrei sterben können. So wie ich es tue. 


Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie

Mehr über Ihr Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.

Beitrag vom 28.03.2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Tagebuch einer Sterbenden

Teil 10: Mein Leben 2.0 

Michèle Bowley (56) ist todkrank. Lesen Sie in Ihrem Tagebuch, wie Sie Menschen inspirieren möchte, denen es ähnlich ergeht wie ihr. Teil 10: Mein Leben 2.0.

Tagebuch einer Sterbenden

Teil 9: Elf Schritte ins Glück 

Michèle Bowley (56) ist todkrank. Lesen Sie in Ihrem Tagebuch, wie Sie Menschen inspirieren möchte, denen es ähnlich ergeht wie ihr. Teil 9: Elf Schritte ins Glück.

Tagebuch einer Sterbenden

Teil 8: Die Macht der Psyche

Michèle Bowley (56) ist todkrank. Lesen Sie in Ihrem Tagebuch, wie Sie Menschen inspirieren möchte, denen es ähnlich ergeht wie ihr. Teil 8: Die Macht der Psyche.

Tagebuch einer Sterbenden

Teil 7: Hirnmetastasen ade

Michèle Bowley (56) ist todkrank. Lesen Sie in Ihrem Tagebuch, wie Sie Menschen inspirieren möchte, denen es ähnlich ergeht wie ihr. Teil 7: Hirnmetastasen ade.