Teil 6: Das Leben loslassen Tagebuch einer Sterbenden
Viele fragen sich, wie man das Sterben akzeptieren und das Leben loslassen kann. Die Antwort ist mir vertraut. Ich lasse mich seit jeher auf Neues ein und halte wenig an Vertrautem fest. Erfasse ich all meine Lebensstationen richtig, bin ich rund achtzehnmal umgezogen. Das ist gleichbedeutend mit: achtzehnmal neugierig sein, was die Zukunft bringt. Mich immer wieder einlassen auf neue Wohnorte, neue Arbeitsplätze, neue Arbeitskolleginnen und -kollegen, auf neue Abläufe, neue Strassen, neue Quartiere, neue Verkehrsmittel und neue Läden. Offen sein für neue Begegnungen, mit neuen Nachbarn, neuen Freundinnen und Freunden und mit neuen Liebespartnern. Unbekannte Gerüche und Farben. Und immer wieder Loslassen von Bekanntem.
An die ersten Wohnorte kann ich mich naturgegeben nicht erinnern, damals war ich noch ein Baby respektive ein Kleinkind. Vevey, Orbe, diverse Orte in der welschen Schweiz. Sicherlich lernte ich schon damals, dass der nächste Ort viel Schönes und Spannendes für mich bereithält.
Die ältesten Erinnerungen führen mich nach Bottmingen zurück. Im Alter von drei oder vier Jahren gehe ich dort in den Vorschulkindergarten. Und einmal sogar an die Basler Fasnacht. Nur Mutter bleibt zu Hause. Die Waggis, traditionelle Figuren der Basler Fasnacht mit imposanten Larven, werfen von ihren Wagen Bonbons in die Menschenmenge. Wir rennen, um möglichst viele Süssigkeiten zu ergattern und sind glücklich über die erfolgreiche Jagd. Ich freue mich darauf, Mutter meine Beute zu zeigen. Ich erzähle ihr von den bunten Kostümen, vom Lärm und den vielen Menschen, von den Waggis-Wagen und den Süssigkeiten, die wir von der Strasse aus dem Konfetti gekratzt haben. Mutter scheint sich nicht zu freuen. Wahrscheinlich ist sie traurig, dass sie nicht dabei war. «Willst Du ein paar meiner Sugus?» Sie lächelt müde und winkt ab.
Die längste Zeit lebte ich in Aesch «bi Gott», wie wir Basellandschäftler zu sagen pflegen. In der Schule darf ich endlich lernen. Ich kann recht schnell lesen und schreiben. Dank meiner Noten wechsle ich später ins Progymnasium. «Mit dem Vorbehalt, dass Michèle etwas langsam und verträumt ist», schreibt die Lehrerin meinen Eltern. Diese bleiben jedoch entspannt. In der neuen Klasse fühle ich mich sofort pudelwohl. Die Pubertät beginnt, die erste Periode kommt, erste Zigaretten in den Büschen des Pausenhofs, endlose Gespräche über Jungs, spriessende Brüste, schwierige Eltern und blöde Lehrer.
Ich freue mich trotzdem aufs Gymnasium und bin neugierig darauf, was ich da wohl lerne und wen ich kennenlerne. Knapp fünfzehnjährig reise ich als Austauschschülerin in die USA. Dort erwarten mich eine neue Kultur, eine neue Familie und neue Mitschüler. Mit neunzehn Jahren miete ich mit einer Freundin meine erste Wohnung in Basel. Ich arbeite in einer Sprachschulvermittlung. Dann startet mein Psychologiestudium in Zürich. Bald ziehe ich ins Personalhaus eines Altenpflegeheims, in dem Pflegende, Asylsuchende und Studierende eine lose Gemeinschaft pflegen. Nach weiteren zwei Jahren ziehe ich zu meiner Studienfreundin in eine Wohngemeinschaft, in die Nähe der Universität. Es wachsen Freundschaften, und immer wieder heisst es, Abschied zu nehmen. Denn manche Mitbewohnerinnen verlieben sich, ziehen zu ihren Freunden. Andere schliessen oder brechen ihr Studium ab, streben neue Ziele an. Nach Abschluss des Studiums ziehe ich zurück nach Basel in ein günstiges Multikulti-Quartier. Weitere Stationen folgen.
Ich weiss aus Erfahrung: Wer loslässt, hat die Hände frei für etwas Neues, Spannendes und Bereicherndes. Das gilt auch für das Sterben. Es führte mich zur Einsicht: Lebe Dein Leben. Jetzt!
Nun also die Diagnose: nicht operabler Brustkrebst. Die vielen Erfahrungen helfen, die ich im stetigen Hin und Her sammeln konnte. Denn ich weiss aus Erfahrung: Wer loslässt, hat die Hände frei für etwas Neues, Spannendes und Bereicherndes. Trotzdem suche ich lange, meiner Brustkrebsdiagnose etwas Positives abzuringen. Doch mit der Diagnose Hirnmetastasen verziehen sich die Wolken mit einem Schlag. Ich erkenne sofort meinen Lebenssinn, dass ich auch andern Menschen Mut machen möchte, ihren Lebenssinn zu erkennen. So fand ich zu meiner Botschaft, die mich bis heute umtreibt: «Lebe DEINS – JETZT». Für andere mag eine Diagnose, wie ich sie erhalten habe, das Ende bedeuten. Für mich steht sie am Anfang. Lebe DEINS – JETZT!
Ich hatte gelernt, mich aufs Sterben einzustellen. Mich neugierig gefragt, wie das wohl geht und was nach meinem Tod wohl kommt. Mein inneres Bild vom Leben nach dem irdischen Tod erfüllte mich zusehends mit Zuversicht. Ich hatte keine Angst, mich dieser letzten Aufgabe zu stellen: meinem Sterben. Irgendwie freute ich mich sogar darauf. Es war für mich in Ordnung «das Zeitliche zu segnen», «ins Gras zu beissen», «die Maiglöckchen von unten zu betrachten». Ich hatte mich von meinen Liebsten verabschiedet, mich mit vielen Menschen versöhnt, mein Geld grosszügig an Freundinnen und Freunde verschenkt.
Dann aber verschwinden die Metastasen. Nun muss ich mich darauf einlassen, dass mein Leben länger dauert als gedacht. Ich frage mich, was ich wohl zu dieser sensationellen Veränderung beigetragen habe.
Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie
Mehr über das Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.